Stadthafen

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Gelangweilt erhob ich mich von meinem Platz und hob meine Tasche auf den Stuhl. Langsam begann ich meine Sachen einzuräumen, schließlich gab es keinen Grund zur Eile. Die Pause ist 20 Minuten lang, warum also der ganze Stress? Naja, zumindest schien es für den Rest meiner Klassenkameraden sehr wichtig zu sein, den Klassenraum so schnell wie möglich zu verlassen. Ich ließ meinen Blick durch eben diesen schweifen und entdeckte Ella die bereits eingepackt hatte, und nun auf mich zugelaufen kam. Wie schaffte sie das nur immer? Hinter ihr entdeckte ich noch jemand anderes: Fynn. Aus einem, mir unerklärlichen, Grund starrte er zu mir herüber. Und, sehr zum Ärger meinerseits, machte er auch keine Anstalten weg zu sehen, als ich ihn abschätzend, vielleicht auch ein wenig grimmig, anblickte. Ich war gezwungen unser Blickduell abzubrechen, als Ella bei mir ankam. Fynn war ihr derzeitiger Schwarm, auch wenn ich nicht recht verstand warum. Er war alles andere als charmant, und auch wenn ich zugeben musste, dass er nicht allzu schlecht aussah, wusste ich, was für ein Arschloch er war. Er schien gerade etwas mit Chloe am laufen zu haben, eine andere Freundin von mir. Naja, sie waren nicht zusammen, ich würde deren Beziehung eher als sehr kompliziert beschreiben. Es beschränkte sich auf das impertinente nachfragen seinerseits nach Nudes, eine Aufforderung, der sie manchmal nachkam, aber das ganze hatte sich in den letzten Wochen im Sand verlaufen, und ich hatte bis jetzt nichts an neuem Klatsch gehört. Ich war in der Klasse, gerade unter den Mädchen, ziemlich gut vernetzt. Aus irgendeinem Grund hatte ich eine vertrauenswürdig Ausstrahlung, was fast jeden in meiner Umgebung veranlasste, mir ihr Herz auszuschütten. Selbst in den Parallelklassen, war ich so etwas wie die emotionale Müllkippe. Irgendwie konnte jeder bei mir seinen Kummer abladen. Ein Umstand, der mich jetzt nicht sonderlich störte, auf manche Dinge hätte ich aber auch gerne verzichtet. Lange Rede, kurzer Sinn, ich wusste über manche Typen mehr, als mir lieb war, was Dating in meiner eigenen Klassenstufe so gut wie unmöglich machte. Als jedermanns beste Freundin, wusste ich von jedem schmutzigen Geheimnis. Wie konnten diese Kerle nachts noch ruhig schlafen? Ella riss mich aus meinen Gedanken: „Bist du dann auch mal so weit?" Ich erwachte aus meiner Tranche, ließ mein Biologiebuch in die Tasche gleiten und schulterte diese. „Kann los gehen." Im Vorbeigehen schnappte ich mir meine Jacke vom Harken und stapfte aus dem Raum hinaus auf den Flur. Schweigend ging ich die Treppen herunter, während Ella sofort anfing von Fynn zu schwafeln. Wie schlau und gutaussehend er wäre. Ich warf ihr einen Ernsthaft?!-Blick zu. „Ich weiß, du hältst nicht viel von ihm, aber wer weiß, vielleicht ist er nur so, weil er sich nicht traut seine zarten Seiten zu zeigen!" „Genau! Und deshalb belästigt er unschuldige Mädchen über Whatsapp, selbst wenn niemand zusieht!", meinte ich nur und verdrehte die Augen. Klar, es ist falsch, jemanden zu verurteilen, wenn man ihn nicht richtig kennt. Trotzdem, das was ich gehört hatte, reichte. Und nur, weil ihm jedes Mädchen zu Füßen lag, hieß dass noch lange nicht, dass ich das auch tun musste. Ich stellte meine Tasche vor der Turnhalle ab. Gott sei dank, hatten wir Sport getrennt. Dahinschmelzende Mädchen zu beobachten, die wiederum keine Sekunde ihren Blick von den Jungs abwandten? Das hätte ich nicht ausgehalten. Ich erinnerte mich an die letzten Jahre zurück, irgendwie war damals alles einfacher gewesen. Da hatte man noch gemeinsam Witze reißen, und einander in Sport zerstören dürfen, ohne, dass man entweder instant geshippt wurde, oder alle dich als Tomboy abstempelten. The good ol' times... Ich verbrachte den Rest der Pause mit Ella, Chloe fehlte mal wieder, keine Ahnung warum, aber sie hatte sich bestimmt schon wieder irgendwas eingefangen. Im Gegensatz zu meinen besten Freundinnen wurde ich fast nie krank. Eine von ihnen nutzte jedenfalls ihre Zeit, mir das Ohr abzukauen und non-stop über Fynn zu reden. Als es dann klingelte, war ich fast schon dankbar, dass sie endlich zum schweigen kam. Sie kannte ihn noch nicht einmal! Ihre einzige Verbindung war die gemeinsame Busfahrt zur Schule, die beiden hatten noch nie ein Wort miteinander gewechselt! Zumindest hatten sie sich noch nie richtig unterhalten. Nach fünf Jahren in einer Klasse, gab es bestimmt schon einmal das ein oder andere „Hallo", aber dass war es dann auch. Trotzdem wollte ich jetzt keine schlechte Freundin sein. Ich hatte ihr vorgeschlagen, ihm morgens einfach mal „Guten Morgen" zu sagen, wenn er zustieg, mit dem Hintergedanken, dass sie dann wenigstens ein bisschen Nähe zu ihm aufbaute. Aber selbst das schien sie schon mehr als zu überfordern. Ständig bekam ich Dinge zu hören, von wegen: „Ich kriege bei ihm kein Wort raus!" oder: „Ich hab überhaupt nicht das Selbstbewusstsein ihn anzusprechen!" Sie war ein hoffnungsloser Fall. Schon seit Wochen versuchte ich ihr klar zu machen, dass sie nur für ihn schwärmte, und ihn halt attraktiv fand, aber keinesfalls so etwas wie Liebe empfinden konnte, wenn sie ihn nicht einmal kannte. Gut, ich kannte ihn jetzt auch nicht, aber meiner Meinung nach, ist eine solche Ansichtsweise durchaus berechtigt. Es ist ganz einfach: Menschen verlieben sich in Personen, denen sie nahe stehen und denen sie vertrauen. Klar, sorgen gewisse Attribute dafür, dass wir manche Menschen eher als Partner in Betracht ziehen, aber das war es dann auch schon. Und wenn sie wirklich mit ihm etwas anfangen wollte, dann musste sie wohl oder übel mit ihm reden. Ihn immer nahe zu sein, und mich mit dahin zu schleppen, wo er sich gerade aufhielt, würde kein bisschen helfen. Außerdem hatte ich den Verdacht, dass wir ihm mittlerweile aufgefallen waren. Was auch den seltsamen Blick von heute morgen erklären würde. Er musste irgendetwas vermuten, und wenn sie nicht bald mit ihm redete, könnte das sonst wo hin führen. Und um ehrlich zu sein, hatte ich gerade wenig Lust auf emotionales Chaos unter meinen Besties.

Ella und ich saßen gemeinsam auf einer Matte und warteten auf das Ende der Stunde. Leistungskontrollen waren entspannend, solange man nicht selbst dran war. Den Rest der Zeit saß man einfach in der Halle und wartete. Und bei Mädchen hieß das, in Cliquen auf den Matten zu sitzen und über alles und jeden zu lästern und zu schwärmen. Und auch, wenn ich nicht wirklich beteiligt an der ganzen Schwatzerei war, ist es doch immer spannend zu hören, was gerade so Sache war. Ella unterhielt mich ihren üblichen Argumenten, warum Fynn der liebenswürdigste Mensch auf Erden war, bis ich sie schließlich in ihrem Redefluss unterbrach: „Hat das heute morgen mit dem Grüßen eigentlich geklappt?" Ella schüttelte mit dem, nun hochroten, Kopf. „Wirst du ihn jemals ansprechen?", wollte ich nun wissen. Ella zuckte mit den Schultern. „Ich bin mir nicht mehr so sicher, weißt du? Chloe hat so viel erzählt, und du bist auch kein Fan von ihm. Irgendwie hab ich Hoffnungen ihn zu ändern, aber gleichzeitig möchte ich langsam auch keine Gefühle mehr für ihn haben! Ich weiß ja, was für ein Arschloch er ist!" Mit einem Seufzer ließ sie sich auf die Matte fallen. Ich ließ nur ein nachdenkliches „Mm." von mir hören. Gefühle loszuwerden, war eine schwierige Aufgabe... Ich erhob mich von der Matte, half Ella hoch und wir verließen mit dem Rest der Mädchen die Halle. Niemand von uns sagte ein Wort. Wir beide schienen unseren eigenen Gedanken nachzuhängen. Mein Kopf schien allerdings eher leer als voll von Gedanken zu sein. Selbst als ich unter der Dusche den Schweiß abwusch, hatte ich immer noch keine Ahnung, wie ich ihr helfen sollte. Ich kleidete mich wieder an, ließ meine Haare aus dem Knoten fallen und verließ die Umkleide noch vor Ella.

Gedankenverloren bog ich um eine Ecke und wurde plötzlich zur Seite gezogen. Der Schreck verbannte alle Luft aus meinen Lungen, ich musste keuchen. Ich fand mich gegen eine Wand gedrückt wieder, mit fremden Lippen auf meinen. Was?! Fynn?! Er löste sich von mir, allerdings ohne mich freizugeben. Er hielt mich weiterhin an die Wand gepresst. Ich wusste nicht ob ich schreien oder ihm eine klatschen sollte. Langsam öffnete ich meinen Mund, nur um ihn dann wieder zu schließen. Sag was! Ein selbstgefälliges Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „Hey Robin.", meinte er, hob mein Kinn ein wenig an und musterte mich. Und dann war er auch schon wieder weg. Als hätte ihn der Boden verschluckt. Von einem Moment zum anderen wurde ich nicht mehr festgehalten und stand allein auf dem leeren Gang. Was war gerade passiert? Ich rutschte mit dem Rücken an der Mauer entlang auf den Boden, wo ich regungslos sitzen blieb. Mit der einen Hand fuhr ich mir über die Lippen. Er hatte mich geküsst. Und noch viel schlimmer: Er hatte mir meinen ersten Kuss gestohlen!

Zweiter Teil folgt...

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