Das Kratzen der Kreide auf der Tafel, das leiseste Geräusch im Raum, ließ die erste Assoziation entstehen. Die ersten Grundzüge durch so ein zartes, im gigantischen Baustellenorchester außerhalb kaum wahrnehmbares Stimmchen kreiert. Im Beginn großer Dinge findet sich in der Retrospektive häufig ein anrührender Hauch von Vermeidbarkeit. Was wäre wenn.
Das Kratzen schlich sich in meinen Kopf. Ließ mich alles andere ausblenden. Nach und nach. Ein kristallklares Kratzen von Kreide an der Tafel. Rauf und runter formte das Kratzen Formen, Buchstaben, Zahlen. Eine seltsame Anmut bot sich mir in dem gleichmäßigen Klopfen, dem kurzen Kreischen, dem langsamen Quietschen.
Und als der Raum langsam an Schärfe verlor, war es mir als würden meine Augen sich schließen. Als würde Lethargie in Müdigkeit übergehen, und Müdigkeit in Schlaf.Als sich das helle Licht im Bewussten manifestierte kehrte die Rationalität zurück. Ich schlief nicht einfach so im Unterricht ein. War mir noch nie passiert, nicht mal ansatzweise. Und würde mich nicht jemand wecken wenn durch mein Einschlafen die träge Dynamik im Kurs gefährdet wäre? Und wie war es möglich, dass sich so klare Fragen im Traum stellten? Während ich nachdachte veränderte sich mein Umfeld. Das Umfeld, das erst im Moment der Veränderung meine Aufmerksamkeit weckte. Ich glaubte das Entstehen einer Biegung zu betrachten. Weiße Materie verformte sich zu wiederum weißen Wänden. Zu einer weißen Ecke. Dahinter ein weißer Raum. Ein Stuhl entstand, als hätte ich weiße Farbe geworfen, und Unsichtbarem Form verliehen.
Fasziniert streckte ich meine Hand nach dem zuvor nicht da gewesenen aus.
Meine Hand. Ich blickte an mir herab. Erkannte einen Körper, an den ich bis dato keinen Gedanken verschwendet hatte. War er von Beginn an mit mir an diesem Ort gewesen? Hatte ich nicht zuvor, um hinter die Ecke zu blicken, einfach hinter die Ecke geblickt? War damit tatsächlich ein Bewegungsablauf verbunden gewesen? Oder hatte ich eben einen Körper erblickt, weil mein Verstand nicht fähig war ohne Hand zu tasten, und eine Hand nur an einem Körper existieren konnte?
Wenn ich nun doch träumte, war dies mit Sicherheit das absurdeste, was mir je in den Sinn gekommen war. Vielleicht war es doch nicht harmlos gewesen Harry Potter ein zwölftes Mal zu lesen.
Und wie als Antwort lag dort Harry Potter. Band 7. Nicht der Mensch Harry Potter natürlich. Dafür hätte es erstmal einen geben müssen. Das Buch lag auf dem weißen Stuhl und sah genauso aus wie es immer ausgesehen hatte. Jedes der 12 Male die ich dieses Buch bis dato verschlungen hatte. Zerlesen, dick, mit einem bunten Einband, der bei moderneren Ausgaben längst völlig verändert worden war. Zögernd griff ich danach. Prüft sein Gewicht, seinen Duft. Strich über den festen Buchrücken und ließ es einmal auf und zu schnappen. Dann ließ ich mich auf dem Stuhl nieder und schlug die erste Seite auf.Nicht Harry Potter. Eindeutig nicht.
‚BITTE NICHT ERSCHRECKEN' stand da. In Großbuchstaben. Zum Glück war die Seite von vorneherein gefüllt. Keine magische auftauchenden Buchstaben. Kein Tagebuch.
‚Wenn du gleich hochguckst, wird ein fremder Mann vor dir stehen und dir alle Fragen beantworten. Aber bitte, erschreck dich nicht.'Ich löste meinen Blick von dem Papier in meinen Händen.
Ein fremder Mann stand vor mir.
Ich erschrak.
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Träumer
Teen FictionTräumer, der; 1. jmd., der sich wenig an der Wirklichkeit und mehr an seinen Wunschvorstellungen orientiert. 2. Jmd., der (oft) geistesabwesend ist. 3. ?