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„Du kannst doch lesen?"
Die Blasiertheit seines Tonfalls machte die verachtende Offensichtlichkeit seiner Frage nicht eben besser.
Aufgrund der Tüte in die ich, bedingt durch den Schock, mittlerweile schon ruhiger atmete, fiel es mir schwer ihm die Überlegenheit auszutreiben. ‚Natürlich', wollte ich ihm antworten, ‚sonst würde ich in meinen Gedanken wohl kaum geschriebenes Wort vorfinden.'

Statt dessen antwortete er.
„Weißt du, wir geben diese Warnungen nicht um sonst aus. Zwar hat mittlerweile jeder von uns das Wissen um nötigenfalls einzugreifen,  trotzdem sind die wenigsten tatsächlich ausgebildete Mediziner. Und wäre es nicht unschön, mal wieder eine vor sich hin sabbernde Hülle zurück zulassen, statt einen vielversprechenden Anwärter ausbilden zu können? Nun zugegeben, sie war schon über sechzig und körperlich nicht besonders fit aber-"

Endlich hatte ich mich soweit beruhigt, dass ich ihn unterbrechen konnte.
Leider fiel mir keine geistreichere Art ein meine Verwunderung auszudrücken, als „Halt stopp, was?". Immerhin drei zusammenhängende Wörter.
Ich konnte seinem Gesicht beinahe dabei zusehen wie auch der letzte Rest Interesse an mir verblasste. „Enttäuschend." seine Stimme klang, als hätte er sich gedanklich schon wieder verabschiedet. „Enttäuschend. Wobei..."
Dem musternden Blick seiner Augen folgend betrachtete ich erneut meinen Körper. Was genau schien ihn so zu belustigen, dass auf dem von keinerlei Emotion gezeichnetem Gesicht eines Erwachsenen kurz vor dem Rentenalter, so etwas wie die Andeutung eines Lächelns passierte?
Alles saß da, wo es sitzen sollte. Die Füße an den Beinen, die Beine am Becken, das Becken am Oberkörper. Ich hatte einen Bauchnabel, zwei Brüste und Arme, die aus Ober- und Unterarm sowie Händen mit fünf beweglichen, mit Fingernägeln bestückten Fingern bestanden.
Keine Sonderbarkeiten, keine Besonderheit, keine Verletzungen. Nicht so wie es in anderen Träumen schon gewesen war.

Verständnislos suchte ich den Blick meines Gegenübers.
„Interessant" murmelte der und für einen kurzen Moment meinte ich fast ihn eine Notiz machen zu sehen.
„Du hast Potential Mädchen. Lässt dich nicht von Unwichtigem ablenken. Das wird vieles leichter machen."
Ohne die latente Genervtheit, die mich an die coolen Jungs in meiner Stufe erinnerte, klang seine Stimme viel Wärmer. Die Worte knisterten während er sprach, als würde immer mal wieder ein Teil davon brechen, sich verbiegen oder nachgeben wollen. Ein Akzent, der nichts mit denen gemeint hatte, die ich aus dem Fernsehen kannte. Als würden sich verschiedene Sprachen unter die Deutsche mischen und die Aussprache zwar nicht behinderten,. Jedoch immerwährende Versuche starten, sie in eine andere Richtung zu lenken. Auf eine andere Fahrbahn umzuschwenken.
Auch meinte ich einen starken Tabakkonsum herauszuhören. Und zu riechen. Noch während ich mein Bild seiner Sprechweise vervollständigte schien ich einen Sinneseindruck dazu zu gewinnen.

„War das grade Zufall oder Absicht?" er lachte. Ein Lachen das ich schwerlich einer bestimmten Emotion zuordnen konnte.

Meine ausbleibende Reaktion musste ihm Antwort genug gewesen sein, denn seine Miene wurde wieder neutral und ausdruckslos.
„Das wird dir in den nächsten Jahren von unschätzbarem Nutzen sein. Mir ist bisher nur einmal jemand begegnet, der ohne Training ähnliches Zustande brachte. Die meisten Schüler brauchen dafür Jahre. Wenn sie es überhaupt je lernen. Nur für den gewöhnlichen Umgang würde ich dir in Zukunft empfehlen an Kleidung zu denken. Ein nackter Körper schockiert nun mal viele. Genau wie ein fehlendes Gesicht. Nur weil du es nicht siehst heißt das nicht, dass du nicht über seine Existenz nachdenken solltest. Augen, Ohren und eine Nase reichen da nicht. Denk an das verbindende Gewebe. Vergiss Fett und Muskeln nicht. Deine Knochenstruktur. Mit bist du gleich viel weniger erschreckend. Eine Lektion die wir unseren Schülern für gewöhnlich erst gegen Ende geben müssen."

„Schüler?" brachte ich nach einigen Minuten der schweigenden Schockstarre hervor. Ich hatte diesem Fremden nackt gegenüber gesessen. Nackt. Und ohne Gesicht. Und hatte das nicht einmal bemerkt.

„Ja Schüler. Dein Auftritt gerade hat mein Konzept durcheinander gebracht. Ich hab das hier schon länger nicht mehr gemacht. Also..." seine Augen wanderten einen Moment hin und her, schienen ein nicht vorhandenes Schriftstück zu lesen. „ Ah ja. Ich habs. Miss Liebthal. Die Yale University bietet ihnen ein einmaliges Stipendium zur Förderung ihrer besonderen Talente blabla, etc., Schulische Leistungen.. Egal." Er blickte auf. „Dieses neue Verfahren ist mir zu langwierig. Um es kurz zu machen, dir wird gerade eine Welt eröffnet. Eine Welt der Träumenden in der du mit deinen jetzt schon gegebenen Veranlagungen mit Sicherheit zu großem Erfolg kommen wirst. Unter der Bevölkerung deines Landes gibt es nur etwa 170 Menschen bei denen die Fähigkeit zu träumen so ausgeprägt ist, das sie in unsere Welt eingeführt werden können. Du bist Nummer 171. Aber Privilegien sind an Bedingungen geknüpft."
'Mit großer Macht kommt große Verantwortung Peter' schießt mir durch den Kopf, und einen Moment glaubte ich mir mein Lachen nicht länger verkneifen zu können.
Prüfend sah er mich an, als wäre er nicht sicher ob ich ihm zugehört hätte. Natürlich hörte ich zu. Es war ja schließlich mein Traum. In Träumen passieren Dinge nur wenn man sie mitkriegt. Selbst in diesem seltsamen Traum.
Sein Nicken bestätigte meinen Verdacht.
„Mehr als das was ich jetzt sage wirst du heute nicht bekommen. Immerhin glaubst du ohnehin noch lange nicht an das, was ich zu erklären versuche. So schnell geht das nicht. Aber keine Sorge. Nicht mehr lang und es wird sich alles klären." Der letzte Satz triefte nur so vor Arroganz. Er war niemand der lange freundlich blieb.

Ich starrte ihm nach als er den Raum verließ. Seine Schritte hallten noch lange nach, ebenso wie meine Gedanken. Erst im Nachhinein wurde mir klar, das ich ihn nicht hätte beschreiben können, wenn ich danach gefragt worden wäre. Seine Stimme, ja. Sein Alter vielleicht noch, seinen Geruch. Aber sein Aussehen? Weder hätte ich Statur und Züge abrufen können, noch wäre es mir im Entferntesten möglich gewesen seine Kleidung zu beschreiben.

Zutiefst verwirrt registrierte ich Geräusche die, langsam immer lauter werdend, an meine Ohren drangen. Das Kreischen eines Bohrers. Hammerschläge die den ganzen Körper vibrieren ließen. Und ganz leise, kaum wahrnehmbar, das Kratzen von Kreide auf einer Tafel.

Ich war zurück im Unterricht. Und niemand hatte mein Einschlafen bemerkt.

TräumerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt