Can anybody hear me, I am hidden underground
Can anybody hear me, am I talking to myself
Melanie Martinez - Tag you're it
~*~
Zittrig schlug sie die Augen auf. Ihr Kopf schmerzte und ein entsetzlicher Schwindel hüllte ihre Gedanken in Nebel. Die Welt schien sich zu drehen, Formen und Farben zu verschwimmen. Alles war so plötzlich passiert, noch vor wenigen Sekunden hatte sie im Park mit Nathan gestritten und nun ... Sie tastete nach ihrem Kopf, doch fand zwischen den feinen, schwarzen Strähnen keine Verletzungen. Dennoch war ihr, als wäre sie gestürzt oder ohnmächtig geworden.
Rosa blinzelte, in der Hoffnung, ihre Sicht würde sich klären. Langsam, sehr langsam nur gewann die Welt um sie herum an Konturen, an Schärfe und klar trennbaren Farben. Doch was sie erblickte, was sich ihr offenbarte, ließ sie zurück schrecken. Sie hatte mit ihrer Wohnung gerechnet, mit einem Krankenhaus oder lediglich Nathans Wohnzimmer. Dies jedoch war ein gänzlich fremder Ort, traumgleich, irrsinnig.
Sie befand sich auf dem steinernen Boden eines großen, fensterlosen Raums, inmitten zahlloser kleiner Kreaturen. Aufgeregtes Schnattern umgab sie, die Wesen kicherten und huschten wirr durcheinander. Einzelne Wortfetzen drangen zu ihr hindurch, doch was sie hörte, ergab keinen Sinn. Nichts an diesem Ort ergab Sinn. Alles war fremd und ein Zittern schlich sich in ihre Glieder. Was war geschehen?
Hektisch flatterte ihr Herz hinter ihren Rippen, als sie die kleinen Wesen näher betrachtete. Einige trugen Fell, besaßen Hörner und ihre Züge waren nur noch vage menschenähnlich. Aber Menschen, wirkliche Menschen, entdeckte sie nicht unter ihnen. 'Kobolde', wisperte eine Stimme in ihrem Inneren, aus den Tiefen ihrer Gedanken. 'Nathan hat sich gewünscht, dass sie dich holen.'
Es war zu absurd. Vielleicht, dachte sie, war es nur ein Traum. Vielleicht hatte sie den Park und Nathan längst hinter sich gelassen, lag in ihrem Bett und verarbeitete nun die Geschehnisse des Tages hinter ihren geschlossenen Lidern. Und doch ... alles fühlte sich so echt an, sie nahm fremdartige Gerüche wahr, spürte die Kälte der Steine unter sich und sah die Welt um sich herum so detailliert, wie es sonst nur in der Realität geschah.
"Ich sehe, du bist gut angekommen", erklang eine Stimme und übertönte das Schwatzen der kleinen Wesen. Hastig drehte Rosa sich in die Richtung, aus der man sie angesprochen hatte. Auf einer Art eigenwilligem Thron saß ein Mann, ein Bein locker über die Lehne gelegt, als würde ihn die gesamte Situation nur unwesentlich interessieren. Sein Blick ruhte auf der zierlichen Gestalt am Boden, die ihn so fassungslos musterte. Wirres, blondes Haar fiel ihm in die Stirn und über die Schultern.
"Angekommen?", wisperte sie und und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Ihre Wimpern warfen nur vage zu erahnende Schatten auf ihre blassen Wangen in dem seltsamen Licht, das an diesem Ort herrschte. Ihre Augen, weiherdunkel und endlos verwirrt suchten seinen Blick.
"Wo bin ich hier?"
"Erinnerst du dich nicht an die Worte, die dein 'Freund'", er sprach das Wort beinahe höhnisch aus und um seine Mundwinkel zuckte ein Lächeln, das Rosa nicht zu deuten vermochte. "Soeben gesprochen hat?" In einer fließenden Bewegung erhob er sich und blickte auf sie herab. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf, hielt dann jedoch inne.
"Die Kobolde... Die Koboldstadt...", murmelte sie, mehr für sich selbst als an irgendjemanden unter den Anwesenden gewandt.
"Was glaubst du sonst, was wir sind?", krähte eine Stimme unter den vielen kleinen Gestalten. Ein Wesen mit wirrem, nussbraunen Fell blickte sie aus schwarzen, alterslosen Augen an und legte den Kopf schief. Die anderen lachten, doch der Mann, der als einziger annähernd menschlich wirkte, brachte sie mit einer raschen Bewegung seiner Hand zum Schweigen.
"Kobolde, sehr richtig", sagte er ruhig an das Mädchen gewandt, seine Stimme kühl, ganz so, als wäre alles, was er tat, eine Aufgabe, von der er noch nicht sicher war, ob sie ihn langweilte oder zumindest im Ansatz amüsierte. Ein wenig klang er, als würde er ein kleines Kind loben, wenngleich Rosa vor wenigen Wochen ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert hatte. "Dies ist unser Reich."
"Und du bist?", erneut blickte sie zu ihm auf, in ihren Augen tausend Fragen.
"Ihr König." Nun lag ein selbstgefälliges Grinsen auf seinen Zügen. "Und in wenigen Stunden auch deiner." Er lachte und die Kobolde stimmten mit ein, gehässig, scheinbar erfreut an ihrer Verwirrung. Der König der Kobolde trat einen Schritt auf das Mädchen zu, betrachtete sie abschätzend, als wollte er allein anhand ihres Aussehens erkennen, mit welcher Sorte Mensch er es zu tun hatte. In jedem Fall war sie zu alt, um den Wechsel der Welten als selbstverständlich hinzunehmen. Er musste ihren Ausdruck nicht lesen, um zu wissen, dass sie nicht fassen konnte, was geschehen war.
"Was hältst du davon, aufzustehen, bevor du mit dem Boden verwächst?", auffordern hielt er ihr eine Hand hin und sah auf sie herab. Zwischen den Kobolden breitete sich leises Kichern aus, wie das Knistern eines jungen Feuers.
Ein Teil von ihr begann sich über die Schadenfreude der kleinen Gestalten zu ärgern, doch war dieser Teil zu winzig, um jenen zu überlagern, der ihr noch immer nicht gestattete, dies als die Wirklichkeit anzunehmen. "Ich...", sie stockte, schluckte die Worte herunter, die ihr auf der Zunge lagen und nahm seine Hand, ihre Berührung sacht wie das Fallen einer Feder. Sie ließ sich auf die Füße ziehen. Zuerst sah sie in Richtung der Kobolde, die sie neugierig musterten, nun, da sie nicht mehr klein wie eine von ihnen auf dem Boden saß. Dann blickte sie den König an. Erst in diesem Moment fiel ihr auf, dass seine Augen unterschiedlich gefärbt waren. Eines viel dunkler als das andere. Vielleicht sah sie einen Augenblick länger hin als nötig, ehe sie sich ein wenig fing.
"Das kann nicht sein", sagte sie und es klang unsicherer als beabsichtigt. In dem kleinen Abstand zwischen ihnen schwang ein fragendes, unausgesprochenes oder? in der Luft.
"Du wirst es noch früh genug merken." Der Koboldkönig nahm seine Hand, welche sie noch immer federleicht berührte, zu sich zurück. "Du wirst-"
"Ich werde eine von euch, nicht wahr?" Sie sprach die Worte aus, ohne, dass sie sich ihrer Bedeutung vollends bewusst wurde. Wenn das Märchen der Wahrheit entsprach, blieben ihr nur wenige Stunden, bis sie sich in eine dieser kleinen, schnatternden Gestalten verwandelte. Eines von unzähligen Wesen in dieser wirren, verrückten Welt.
Ihr dunkler Blick suchte den seiner Augen erneut. In ihnen lag ein Ausdruck milder Missbilligung über ihre Unterbrechung, doch tadelte er sie nicht. "Dreizehn Stunden hat er Zeit, um dich zu retten. Nicht mehr. Wenn es ihm nicht gelingt, wovon ich ausgehe, kannst du dich darauf einstellen." Es schien ihn nicht sonderlich zu berühren, dass sie sich in einem Zustand völliger Verwirrung befand, losgelöst von allem, was sie bis eben noch als die Wirklichkeit zu kennen geglaubt hatte.
"Ich dachte, es wäre alles nur ein Märchen ... Eine Schauergeschichte, um Kinder davon abzuhalten, sich leichtfertig Dinge zu wünschen...", murmelte sie. Ihre Stimme klang nun leise, abwesend und glich kaum mehr als einem Hauch zwischen dem unruhigen Treiben der Kobolde.
"Ein Märchen, aus dem dein lieber Nathan anscheinend nicht gelernt hat." In seinen Worten schwang eine Mischung aus Ärger darüber, dass der junge Mann nicht mit seiner Entscheidung und ihren Konsequenzen leben wollte, und vagem Hohn mit, da er sich nun einer nahezu unmöglichen Aufgabe gegenüber sah, wenn er Rosa je wieder sehen wollte.
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Spellbound
FanfictionJeder Wunsch sollte gut durchdacht sein. Denn manchmal wohnt ein paar kurzen Worten eine ungeahnte Magie inne, die Märchen und Träume erwachen lässt. Jareth x OC.