Kapitel 15

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Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie ich Erichs Apartment zum ersten Mal betreten habe. Bis heute jagt es mir einen Schauer über den Rücken. Alles war so unheimlich, so bedrückt, so schrecklich.
Gus weicht nicht von meiner Seite, während wir das Wohnzimmer von unserem Chef betreten. Ivana sitzt neben einem jungen Mann, den ich in diesem Moment kaum als den Erich vor mir habe, den ich in den letzten paar Monaten kennengelernt habe.
Unsere Kollegin redet leise auf ihn ein, seine Schluchzer schütteln ihn. Ich gehe vor ihm auf die Knie, was Besseres fällt mir nicht ein. Ivana macht für mich Platz, sodass ich ihn mit den Fingerspitzen berühren kann.
"Sie hatte ein Kind... Ein Kind von mir... Seit drei Monaten war sie schwanger... Sie war im dritten Monat mit meinem Kind schwanger, Courtney!"
Sein Anblick zerreißt mir das Herz. Ich habe ihn wirklich schon mehrmals in solch ähnlichen Situationen vorgefunden, wenn er zum Beispiel Wutanfälle in seinem Büro gehabt hatte, aber das hier übertrifft alles.
"Erich, hör zu, ich weiß, das ist alles gerade ein bisschen viel, doch es wird alles gut werden, das-"
"Wie soll es wieder gut werden, Court?! Ich habe nicht nur eine Freundin verloren, sondern mein eigenes Fleisch und Blut! Mein Kind!"
Auch Gus versucht nun, ihn zu beruhigen: "Erich, du musst ruhig atmen, hörst du? Nur wenn du dich ein ganz kleines bisschen beruhigst, können wir dir helfen. Na komm, Alter, ab auf die Couch mit dir. Der kalte Boden hier macht das auch nicht viel besser, das riskiert wahrscheinlich nur noch, dass du krank wirst. Ich heb dich hoch, okay? Eins, zwei, drei, hoch!"
Ich bewundere es insgeheim, wie problemlos Augustus seinen besten Freund auf die riesige Couch verfrachtet. Ivana ist inzwischen in die Küche gegangen, um Teewasser für uns alle aufzusetzen und ich lasse mich neben Erich nieder.
Völlig in sich eingesunken sitzt er da, zittert noch leicht, aber atmet wieder recht normal. Ich überlege was ich jetzt tun soll, wie ich ihm helfen kann, aber mir fällt einfach nichts ein. Ich meine, wie denn auch? Ich habe mich zwar auch schon in einer Situation befunden, die mit den schrecklichen Gefühlen, die Erich nun plagen müssen, vergleichbar wären, aber ich habe meine Eltern gehabt. Seine Eltern waren, wie ich vor einiger Zeit erfahren habe, tot. Als seine Mutter seinen Dad kennengelernt hatte, war sie Prostituierte gewesen. Sie ist aufgrund der Drogen, an die vor allem sein Vater sie herangeführt hatte, kurz nach Erichs Geburt gestorben. Dieser hat mir erst vor kurzem anvertraut, dass sie ihm gerade noch seinen Namen geben konnte. Sein Vater erlag ebenfalls, wie Erich herausgefunden hatte, seiner Drogensucht. Erich ist bei seinen Großeltern aufgewachsen, doch sein Großvater hat Krebs und er möchte die beiden nicht noch zusätzlich belasten. Die einzige Familie, die er dementsprechend noch hat, sind wir. Er hätte sogar eine eigene Familie haben können, doch Cindy und sein Kind sind aus für uns unerklärlichen Gründen umgebracht worden. Der Gedanke an einen Erich, der vollkommen allein auf dieser Welt zu sein scheint, macht mich traurig. So traurig sogar, dass ich die Tränen wegblinzeln muss, die mir in die Augen gestiegen sind. Gus steht noch immer vor der Couch und sieht mir fest in die Augen. Ich sehe ihm an, dass er angestrengt versucht, eine Lösung für dieses momentane Chaos zu finden. Ich werfe einen Blick zu Erich, sehe ihn erneut schluchzen, und habe meinen Entschluss gefasst. Ich weiß bis heute nicht, woher meine Selbstsicherheit gekommen ist, doch ich habe in diesem Moment einfach nicht still sitzen können, zu sehr quälte mich Erichs Schmerz. Ich nehme sein Gesicht in die Hände, sodass er mich ansehen muss. Es wird Zeit ihm und den anderen meine Geschichte zu erzählen, sonst wird er niemals verstehen, dass auch die tiefsten Wunden irgendwann heilen werden.
"Ich möchte, dass du mir jetzt ganz genau zuhörst, Erich. Ich kann nicht zu hundert Prozent nachvollziehen, wie du dich fühlst, aber ich weiß was es bedeutet, wenn einem Menschen alles aussichtslos erscheint. Wenn man das Gefühl hat, dass nichts wieder gut werden wird. Wenn man sich fühlt, als wäre man ganz allein auf der Welt, niemand würde einen verstehen."
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Ivana mit einem Tablett, auf dem vier Tassen mit heißem Tee stehen, in den Raum kommt und sich neben Gus setzt, der es sich inzwischen auf dem Boden gemütlich gemacht hat.
"Ich habe euch doch erzählt, dass ich mein Literaturstudium in Oxford hingeschmissen habe, dass ich einen Neuanfang gebraucht habe."
Ich warte nicht auf irgendwelche Reaktionen, sondern konzentriere mich einzig und allein auf Erichs graublaue Augen.
"Ich habe das nicht freiwillig getan, ich hatte wirklich Pläne. Ich hatte den Traum, irgendwann mal meinen Namen auf einem Buchdeckel sehen zu können. Literatur war und ist noch immer alles für mich.
Für Leute wie mich ist die Oxford University wie das Paradies auf Erden. Es hat alles, vor allem Förderkurse für angehende Autoren. Oscar Wilde studierte dort. Und nicht nur Literaturstudenten zieht es an eines der vielen Colleges, die die University innehat. Stephen Hawking schrieb in Cambridge seine Doktorarbeit. Die Universität konnte mir dabei helfen, mir früher oder später meinen Traum zu erfüllen. Mein Lieblingskurs war von der ersten Stunde an Kreatives Schreiben und ich fühlte mich endlich dazugehörig. Mein Dozent, Timothy Williams, war ein junges, verdammtes Genie, unfassbar beliebt unter seinen Studenten.
Warum also habe ich all das gegen einen Job als persönliche Assistentin eines Technik-CEO in San Francisco hergegeben? Diese Frage ist recht leicht zu beantworten. Timothy Williams. Eines Tages, nachdem ich mich schon lange in der Universität eingelebt hatte, fiel mir auf, dass ich meinem Dozenten immer öfter begegnete. Lief ich durch den Gang, folgte er mir. Betrat ich den Speisesaal und stellte mich in der Schlange an, brauchte ich mich nicht einmal umzudrehen, um zu wissen, dass er hinter mir stand und mich anstarrte. Ging ich mit meinen Zimmergenossinnen auf eine Party, stand er bereits auf dem Parkplatz.
Eines Abends gingen meine Freundinnen auf eine weitere Party, die einer ihrer Freunde schmiss. Ich allerdings wollte nicht mit, ich hatte genug von dem Alkohol und wollte mich auf eine Geschichte konzentrieren, die sich gerade in meinem Kopf zusammensetzte. Irgendwann muss ich dann mit meinem Notizbuch in der Hand eingeschlafen sein, denn das Klicken unseres Türschlosses riss mich aus dem Schlaf. Ich war davon ausgegangen, dass es meine Zimmergenossinnen waren, die vermutlich vollkommen betrunken von der Party zurückgekehrt waren. Doch ich hatte mich geirrt. Bis heute wünschte ich, ich wäre mitgegangen. Timothy Williams betrat mein Zimmer. Er hatte sich in mich verliebt, doch ich empfand nicht dasselbe, außerdem war er immer noch mein Dozent. Ich erkannte innerhalb des Gespräches recht schnell, dass er verrückt war. Er akzeptierte kein Nein und bedrängte mich, sobald er spürte, dass ich seine Gefühle nicht erwiderte. Es wurde mir zu viel, versuchte mich gegen ihn zu wehren, doch das schien ihm nur noch mehr ein Machtgefühl zu geben. In dieser einen Nacht tat er mir Unaussprechliches an. Als alles vorbei war und er das bekommen hatte, was er wollte, verschwand er wieder. Für mich war von der ersten Minute an klar gewesen, dass ich nicht dort bleiben konnte, auch wenn ich es erst versucht hatte, doch es brachte nichts. Zu schrecklich waren die Erinnerungen an das, was dieser eine Mensch mir angetan hatte. Ich brach mein Studium ab und kehrte nach Hause zurück. Ich wurde in die Therapie gegeben und verarbeitete meine traumatischen Erlebnisse. Manchmal sehe ich diesen Menschen noch in meinen Träumen, doch meine Wunde ist im Laufe der letzten eineinhalb Jahre verheilt. Sie wird immer eine Narbe hinterlassen, aber mit Narben lernt man zu leben. Das, Erich, wirst auch du eines Tages gelernt haben, das verspreche ich. Und bis es soweit ist, sind wir für dich da, darauf kannst du dich verlassen."
Ehe ich weiß, wie mir geschieht, zieht mich Erich in seine Arme und ich spüre seine Lippen kaum merklich an meinem Ohr: "Und ich werde immer für dich da sein, Courtney. Egal ob du mit Gus zusammen bist, oder nicht. Bevor du fragst, jeder Blinde sieht doch, dass ihr ein Paar seid, ich habe es von Anfang an gewusst."
Ich kann nichts anderes tun, als mich erleichtert in seine Arme sinken zu lassen. Jetzt wissen sie es endlich und ich muss diese Geheimnisse nicht mehr mit mir herumtragen.  

Cookies! ❤️
Hier habe ich endlich ein neues Kapitel für euch, ein sogar sehr Wichtiges, wenn ihr mich fragt :)
Was sagt ihr dazu?
Eigentlich habe ich euch Courtneys Geschichte an einer anderen Stelle erzählen wollen, doch nun fand ich diese Situation doch recht passend.
Übrigens habe ich mich dazu entschlossen mit "Dark Secrets" und mit "Until We Met" an den diesjährigen Wattys teilzunehmen, vielleicht wird man ja auf meine Geschichten aufmerksam.
Ich freue mich auf euer Feedback ;)
Read you next time ;*
Momofelton ❤️

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