Teil 1 - Das Mädchen: Einsamkeit und Hoffnung

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Es war einmal vor langer langer Zeit in einem fernen Land, dort trug es sich zu, dass ein junges Mädchen in einem hohen Turm saß und malte. Den Pinsel über das Papier schwingend, ohne nachzudenken, ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf und verarbeitete ihr Inneres zu einem konfusen Bild. Sie kannte nicht viele Gefühle. Ihr Leben wurde von Langeweile, Resignation und Einsamkeit bestimmt. Denn sie kannte nichts als diesen Turm, in dem sie schlief, aß und sich die Zeit vertrieb, seit sie sich erinnerte.

Sie hatte sich oft gefragt, aus welchem Grund sie dort festsaß. Hatte gegrübelt, versucht zu entkommen, versucht Kontakt zu der unbekannten Person auf zu nehmen, die ihr alle paar Tage etwas zu essen, neue Farben oder Stoffe und Wolle für ihre Handarbeiten und neue Kleidung brachte. Nach Jahren vergeblicher Versuche gab sie die Hoffnung auf.

Sie hatte noch nie einen anderen Menschen als sich selbst im Spiegel gesehen. Konnte nicht lesen, schreiben, rechnen und sprach nur selten und schlecht. Es grenzte an ein Wunder, dass sie noch nicht verrückt geworden war. Und selbst wenn, hätte es niemand bemerkt. Sie wusste nicht, was gesund oder verrückt, allein oder in Gesellschaft, glücklich oder traurig bedeutete. Genauso wenig wie sie wusste, was Angst war. Und dass diese der Grund für all ihr Leid war. Denn sie war besonders. Sie war mit der Gabe der Natur geboren worden, was die Menschen zu tiefst verängstigte.

Die vier Elemente, Erde, Luft, Feuer und Wasser, gehorchten ihr. Natürlich war sie sich nicht im Klaren darüber, was sie tat, wenn sie die Luft in ihrem Badezimmer durch ihre Haare streifen ließ, um sie zu trocknen. Sie hatte keine Ahnung, dass nicht jeder auf der Welt dazu in der Lage war, die Flamme der Streichhölzer, mit denen sie die Kerze auf der Kommode anzündete, mit einer Handbewegung auflodern zu lassen. Dass es als abnormal galt, die Tropfen des Regens vor dem Fenster ihres Wohnzimmers, welches sie nur einen Spalt breit öffnen konnte, aufzufangen und mit ihnen zu spielen.

Zur Erde hatte sie nur wenig Kontakt. Aus allen Fenstern sah sie in einen weißen Neben hinaus. Der Turm musste in einer Wolke oder in einem Nebelgebiet stehen. Ihre einzige Bindung zur Erde war eine schwache Erinnerung aus frühesten Kindheitstagen, als sie im Sommer auf einer grünen Wiese umher gelaufen war. Dieses Bild vor ihrem inneren Auge zeigte ihr auch zum ersten und einzigen Mal die Strahlen der Sonne. Das einzige Licht in ihrem Turm war ihr eigenes Feuer. Und das einzige Licht in ihrem Leben waren die Elemente, die ihr Trost und Zeitvertreib waren.

Eines Tages aber sollte sich alles ändern.

Es war ein noch recht kalter Tag im Frühling. Genau sechzehn Jahre lebte sie nun schon in ihrem Turm.

Weit weg von ihrem Zuhause oder ihrem Gefängnis – wir belassen es lieber beim Begriff des Turmes –, jeden Falls hatte man ihre bloße Existenz weit weg von ihrem Turm vergessen. Kein Mensch erinnerte sich an den Tag vor so vielen Jahren, an dem ein kleines Kind von vielleicht drei Jahren von einer ganzen Horde bewaffneter Männer, Gott wusste wohin, verschleppt worden und alle, die jemals etwas mit ihr zu tun gehabt hatten, auf lodernden Scheiterhaufen verbrannt worden waren. Man hatte versucht auch das Kind umzubringen, doch nachdem bei zahlreichen Versuchen an die zwanzig geübte Henker ums Leben gekommen waren, hatte der König den höchsten Turm des Landes Mitten im Nirgendwo des höchsten Gebirges errichten lassen, um das Hexenkind dort von allem abgeschnitten festzuhalten.

Nur eine Hand voll der fähigsten königlichen Ritter nährte sich einmal in der Woche dem Turm, in dem diese Kreatur mit den übermenschlichen Kräften saß, und zogen einen Korb mit allerlei Dingen über einen Flaschenzug zu ihr herauf.

Man wollte sie bei Laune halten und gab ihr ab und zu kleine Geschenke. Der Plan ging auf und fünfzehn Jahre lang hörte man nichts mehr von ihr.

All das hatte das Mädchen als Kleinkind nur halb mitbekommen. Manchmal schlichen sich Bilder von der Gewalt und der Angst der Menschen um sie herum in ihre Träume, aber wenn sie aufwachte blieb nichts als ein Hauch von jenem verwirrenden Unbehagen, welches sie immerzu in sich trug und mit welchem sie nichts anfangen konnte.

Die Hexe aus dem TurmWo Geschichten leben. Entdecke jetzt