Kapitel 2

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Ich raffte mir die Röcke zusammen und lief so schnell wie ich konnte die Treppen hinunter. Ich musste aufpassen, damit ich nicht über die Kisten oder Gegenstände stolperte, die herumlagen. Mit geschickten Schritten wich ich ihnen aus und sprang den letzten Treppenabsatz hinunter. Da ich aber Gravin nicht gesehen hatte, landete ich fast auf ihn und er erschrak sich fürchterlich. Vor lauter Schreck ließ er die Kiste, die er hielt, fallen und japste nach Luft.

„Oh großer Gott, Lady Eveline!", rief er und ließ seine wütenden Blicke auf mich ruhen. Aber die vergingen gleich. Ich lachte lauthals los und sofort besänftigten sich seine Gesichtszüge. Er bückte sich, um die teuren Silberbestecke wieder aufzuheben und murmelte dabei vor sich hin.

„Ich hoffe, sie sind heil geblieben." Gravin schaute sich die Gabeln und Löffeln genaustens an und kontrollierte streng, ob sie eh nicht aus Versehen irgendwelche Kratzer bekommen hatten. „Sind die für den König?", fragte ich Gravin neugierig. Er nickte mit dem Kopf und hob die Kiste auf, wobei er unter dem Gewicht ächzte. Er war nicht mehr der Jüngste und Falten zogen sich über sein Gesicht und Hände. Auch einige graue Strähnen hatten sich in seinen kastanienbraunen Haaren geschlichen. Er war mal der beste Freund meines Vaters gewesen. Das lag aber lange her – vor dem Krieg begonnen hatte. Ich konnte mich noch vage an die schönen Tage mit ihm erinnern. Wo er mich in seine Arme nahm und hochhob. Wo mein schrilles Lachen im ganzen Garten zu hören war, weil ich versuchte vor ihm wegzulaufen. Aber nachdem Onkel Jordan das Haus übernommen hatte, starben die ganzen Erinnerungen. Jetzt diente Gravin Onkel Jordan, was bei meinem Vater nie der Fall gewesen war. Er war der Berater meines Vaters gewesen, jedoch war er auch ein sehr guter Freund und so hatte nie eine Hierarchie zwischen ihnen geherrscht. Bei Onkel Jordan war das anders. Gravin war jetzt nur sein Diener und mehr nicht.

„Lady Eveline." Gravin verbeugte sich knapp vor mir und ging wieder seinen Weg weiter. Er war nicht wie früher. Er sprach mich mit meinem Titel an und behandelte mich manchmal auch danach, wenn er vergaß, wie nahe wir uns eigentlich standen. Etwas Miserables legte sich auf mich und ich verzog mein Gesicht. Er wird nie wie früher sein.

Ich schob die schlechten Gedanken beiseite und ging in die Küche, wie ich es eigentlich vorhatte. Hier roch es himmlisch nach Gewürzen und Gerichten, die das Wasser in meinem Mund anlaufen ließen. Töpfe mit brauner Brühe brodelten auf große Feuerstellen und auf dem großen Tisch in der Mitte war ein gigantisches Huhn goldbraun gebraten und vollgestopft mit köstlichen Gemüsen. Mein Magen meldete sich und knurrte laut. Ich hatte Hunger.

In diesem Moment kam Hilde in die Küche, in beiden Händen Kübeln mit Äpfeln. „Oh Blümchen", sagte sie und grinste von einem Ohr zum anderen. Sie kam auf mich zu und umarmte mich herzlich und sofort war das unwohle Gefühl von vorhin weg. Aber bevor ich meine Arme um sie schließen konnte zuckte Hilde, als wäre sie von einem Blitz getroffen und entfernte sich sofort von mir. Ich war verwirrt und meine Hände hingen noch immer in der Luft. Die Köchin verbeugte sich vor mir und sagte mit einer kleinlauten Stimme: „Ich bitte um Verzeihung, Lady Eveline."

Ich war so schockiert und konnte nicht fassen, was gerade passiert war. Nach einigen Minuten sammelte ich mich langsam und ließ die Hände sinken. Ich hievte mich auf den Tresen hinter mir und seufzte laut. Hilde hob ihren Blick und schaute mich unsicher an. Ihre pummeligen Wangen waren vor lauter Anstrengung rot angelaufen und sie schwitzte aus allen Poren. Sie war ein bisschen mollig, aber das hinderte sie nicht daran die besten Speisen in ganz Dellmag zu kochen. Ich schloss die Augen und versuchte wieder einmal meine aufbrausenden Gefühle unter Kontrolle zu bringen. „Hilde, wie oft haben wir darüber gesprochen, dass du mich nicht so ansprechen sollst?" Meine Stimme war hart und barsch, wie ein Spiegel für meine Gefühle, die ich nicht zeigen konnte. Sie erhob sich wieder und holte die Äpfel. Normalerweise war sie immer voller Freude und Liebe. Jetzt jedoch presste sie ihre Lippen zusammen und vermied Augenkontakt. „Du weißt, wie dein Onkel ist." Ja, ich wusste es. Als mein Vater noch am Leben war, zeigten alle Diener ihm gegenüber Respekt und er behandelte sie auch gut. Schrie sie nie an oder ging mit ihnen nicht schlecht um, nur weil sie Angestellte waren. Dadurch spürten die Diener auch keine Angst und sprachen ihre Gedanken und Besorgnisse frei aus. Es entwickelte sich eine Verbindung, die sehr ähnlich mit dem einer Familie war. In Onkel Jordans Fall änderte sich das alles. So kaltherzig und erbarmungslos wie Jordan ist, wies er alle Bedienstete in ihre Schranken. So kam es dazu, dass Gravin und Hilde mich nicht mehr mit meinem Namen ansprachen, sondern einen Titel dafür benutzten. Jordan feuerte alle, die gegenüber ihm und mir kein Respekt zeigten. Er tat es nicht, weil er mir schmeicheln oder mich beschützen wollte. Er tat es nur, weil es ihm gefiel Macht und Stärke zu spüren. Ihm gefiel es, wie alle sich vor ihm verbeugten und ängstlich aus seinem Weg gingen. Alle Wärme und Freundlichkeit wich vom Avinolia Haus, seit Jordan hier eingezogen war.

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⏰ Letzte Aktualisierung: May 19, 2019 ⏰

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