2. Kapitel [Olivia]

158 27 25
                                    

Ich hasste italienische Restaurants wie andere Menschen den Krieg. Aber auch für mich gab eine einzige Sache, die noch schlimmer war: Ein italienischer Imbiss, der die ekelhaftesten Nudeln von ganz Chicago To-Go anbot und mein Kollege, der dieses Angebot mindestens jede zweite Nacht annahm. Mich wunderte es stark, dass Rutherford noch nicht an einer Lebensmittelvergiftung gestorben war. Allerdings hatte er zum Sterben noch ein bisschen Zeit.

Mittlerweile arbeitete ich die dritte Woche in Folge in der Nachtschicht. Normalerweise hatte man höchstens eine Woche lang die Nachtschicht und dann auch einen Tag Ausgleich. Da mein Vorgesetzter jedoch die Intelligenz eines Höhlenmenschen besaß und im 18. Jahrhundert stecken geblieben war, galt das nicht für mich. Er versuchte mich, die einzige Frau in seinem Team, hinauszuekeln. Mit aller Kraft arbeitete er daran, mir zu zeigen, wie schrecklich und anstrengend diese Arbeit war. Aber nicht mit mir. Auch wenn ich seit 20 Tagen zehn Stunden am Tag, oder vielmehr in der Nacht, meinen Dienst hatte, gab ich nicht auf. Stattdessen war ich nur noch mehr bemüht, ihm zu zeigen, wie sehr eine Frau die Mordkommission dieser riesigen Stadt bereicherte. Außerdem war ein Ende in Sicht, denn bald würde ich erst einmal Urlaub haben. Wahrscheinlich würde ich in diesem Jahr nach Spanien fliegen. Oder Portugal. Je nach Wetterlage.

„Und du bist dir sicher, dass du keine Nudeln willst?", murmelte Rutherford, während er sich gleichzeitig die nächste Fuhre der übelriechenden Nudeln in den Mund schob. „Ganz sicher", versicherte ich ihm schnell und trank einen Schluck von der Cola, die mich durch die Nacht bringen sollte. Essen tat ich meistens vor der Schicht und nach der Schicht. Bereits in meiner ersten Woche hatte ich üble Erfahrungen damit gemacht, vor Männern wie Rutherford zu essen. Das ganze Revier bestand aus verdammten Neandertalern. Rutherford war einer der Schlimmsten. Er war schätzungsweise um die 60 Jahre alt und schwärmte seit Jahren davon, bald in Rente gehen zu können. Deshalb kümmerte es ihn nicht mehr, ob er sich durch asoziales Verhalten ein Disziplinarverfahren einhandelte. Außerdem wusste er, ebenso wie jeder andere, dass ich mich niemals an jemanden wenden würde. Für mich war Hilfe anzunehmen schwerer, als für die meisten anderen Menschen. Zusätzlich war da die Gefahr, dass ich ein Verfahren verlieren würde und mir somit eine Zielscheibe auf den Rücken schnallte, die alles noch verschlimmerte und mich möglicherweise dazu zwang, den Job aufzugeben. Etwas, dass ich auf gar keinen Fall wollte. Denn trotz allem liebte ich meinen Job und hatte hart für ihn gearbeitet.

„Einsatzwagen 4 S bitte melden." Das Funkgerät verkündete mit einem unerträglichen Knacken den nächsten Mord, der unter unsere Zuständigkeit fallen würde. Der ältere Beamte neben mir hatte noch immer seine Nudelbox in der Hand, weshalb ich schnell nach dem Funkgerät griff, das auf der Konsole befestigt war. Er schien diese Bewegung allerdings kommen zu sehen und griff hastig nach dem Gerät, wobei er ächzend seine restlichen Nudeln auf den Boden schmiss. Fluchend wischte er sich die Hose ab, das Funkgerät dabei in der anderen Hand fest verankert. Das konnte doch unmöglich sein Ernst sein. In den vergangenen drei Wochen hatte ich bereits mit drei verschiedenen Kollegen gearbeitet. Keiner von ihnen ließ mich unser Einsatzfahrzeug fahren, das Funkgerät hingegen durfte ich bedienen. Was auch durchaus legitim war, wenn die andere Partei fuhr. Genervt seufzte ich auf und lehnte mich in dem Autositz zurück.

„Rutherford und Barbie hören." Was war sein verdammtes Problem? Am liebsten hätte ich ihn einmal mitten ins Gesicht geschlagen, versuchte mich allerdings für den Moment zusammenreißen. Mein Temperament und meine unglaubliche Wut auf diesen ätzenden Typen würde mir nicht die ganze harte Arbeit zerstören, die ich geleistet hatte, um hier zu sein. Also wehrte ich mich nicht, sondern atmete nur einmal tief durch, während ich dem fast schon beruhigenden Rauschen des Funkgerätes lauschte. „Jemand wurde umgebracht." Ach was. Ich dachte, die Mordkommission untersuchte Ladendiebstähle. „Die Nachbarin hat den Notruf gewählt, weil sie laut ihrer Aussage schmerzerfüllte Schreie gehört hat. Die Streifenbeamten erwarten euch vor Ort. Die Spurensicherung sollte auch jeden Moment da sein, werden aber selbstverständlich auf euch warten." Obwohl die Leitstelle es nicht sehen konnte, nickte Rutherford und schaltete vorsorglich schon einmal das Blaulicht an. Idiot. Vermutlich würde ich nie verstehen, warum wir mit Blaulicht durch die Stadt rasen mussten. Schließlich war der Mann schon tot. Die Leitstelle gab uns die Adresse durch. Zeitgleich parkte Rutherford aus, riss das Lenkrad herum und trat auf das Gaspedal. Und die Nudeln lagen noch immer auf dem Boden.

Trotz dass Chicago eine riesige Stadt war, dauerte es keine 10 Minuten, bis wir den Tatort erreicht hatten. Wir waren nicht gerade auf der Ecke gewesen, doch der Mann neben mir fuhr wie ein Geisteskranker mit Todeswunsch. Sobald das Auto stehenblieb, sprang ich also erleichtert aus dem Auto und dankte stumm Gott dafür, eine weitere Fahrt überlebt zu haben. Würde er so weitermachen, würde er seine Rente vermutlich nicht mehr erleben. - und ich meinen 30. Geburtstag, der immerhin noch ein wenig über 4 Jahre entfernt war, vermutlich auch nicht mehr.

„Olivia!" Einer der Streifenbeamten, der unmittelbar vor der Wohnung gestanden hatte, kam mit schnellen Schritten auf mich zu und streckte mir seine Hand entgegen. Lächelnd nahm ich sie für einen kurzen Moment entgegen und beobachtete mit Genugtuung, wie er Rutherford nur kurz angebunden zunickte. Einige Male hatte ich schon mit dem Polizisten, dessen Namen ich bedauerlicherweise vergessen hatte, zusammengearbeitet und war jedes Mal wieder erstaunt, dass es auch in diesem Beruf nette Menschen gab, die tatsächlich schon mal von dem Begriff Gleichberechtigung gehört hatten.

„Bei dem Toten handelt es sich um einen weißen Mann, schätzungsweise Ende 20. Wir haben kein einziges Ausweispapier in seiner Wohnung gefunden", klärte er uns über die ersten Fakten auf, während wir ihn in die protzig wirkende Wohnung folgten. Keine Ausweispapiere. Welcher Mensch hatte nichts in der Wohnung, was ihn identifizierte? - Menschen, die etwas verbergen wollte. Ich nahm mir fest vor, die Wohnung später noch einmal selbst zu durchsuchen, sobald die Spurensicherung eingetroffen war. Natürlich hatten die Mitarbeiter der Spurensicherung ein besseres Auge, ein geschultes Auge. Ihnen fiel jede kleine Auffälligkeit auf, aber selten die Sachen, die genau vor ihnen waren.

„Macht euch auf das Schlimmste gefasst. Der Anblick trifft einen echt hart." - „Mach dir um mich keine Sorge. Aber pass auf, dass Barbie nicht zusammenklappt." Ganz ruhig bleiben, Liv. Zu Rutherfords Glück betrat ich genau in diesem Moment das geräumige Apartment, in dem mich Wichtigeres erwarte. Sofort schlug mir ein leichter Geruch der Verwesung entgegen, den ich schon bestens gewohnt war. Daraus schloss ich, dass er bereits einige Stunden tot war. Immerhin war ich da schon Schlimmeres gewohnt. Schnell ging ich dem leichten Geruch nach und betrat den Raum, der offenbar das Wohnzimmer war. Die Beamten vor uns hatten die Leiche mit einem weißen Leinentuch abgedeckt. Das Tuch hatte einige roten Flecke, die dafürsprachen, dass es eine Menge Blut sein musste. Auch das Fenster sowie das Sofa waren mit getrockneten Blutspritzern befleckt.

Zielsicher ging ich auf den leblosen Körper zu und zog das Leinentuch zurück. Normalerweise deckte ich die Leiche bis zu den Füßen auf, um jede mögliche Todesursache erfassen zu können. Trotz einer folgenden Autopsie war es nie falsch, einen umfangreichen ersten Eindruck zu gewinnen. Heute jedoch empfand ich es als ausreichend, den Toten bis zum Brustkorb aufzudecken. Seine Todesursache war offensichtlich. Sein Kopf war so sehr zerschmettert, dass ich Teile des Gehirnes sehen konnte. Seine weitaufgerissenen, braunen Augen starrten an die Decke, wobei sie merkwürdig hervorstehend wirkten.

„Oh man. Und das kurz vor Feierabend. Konntet ihr nicht warten, bis Schichtwechsel ist? Ich geh erst einmal eine rauchen." Kurz sah ich Rutherford hinterher, der den Anblick trotz großkotziger Ankündigung offenbar nicht so gut vertrug wie ich. Natürlich war es nicht gerade appetitlich, aber auch nicht das Schlimmste, was ich bisher gesehen habe. Rutherford, das größte Weichei der ganzen Kommission. Um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen, bückte ich mich zu ihm herunter und wollte vorsichtig seine Augen schließen. Kurz bevor ich seine Lider schloss, fiel mir allerdings ein entscheidendes Detail auf, sodass ich in meiner Bewegung innehielt. Ich kannte den Toten irgendwoher.

„Alles gut, Olivia?" Ich reagierte überhaupt nicht auf den Beamten, sondern versuchte, mich an diese Augen zu erinnern. Es dauerte einige Momente, bis ich einen Namen zu dem Gesicht fand. Raphael Santos. Raphael war ein hohes Tier im organisierten Verbrechen, das ich vor meiner Zeit bei der Mordkommission zu Fall bringen wollte. Ohne Erfolg. Die Banden, von denen es in Chicago drei gab, hatten sich mit teuren Anwälten und gekauften Richtern aus jeder einzelnen Anklage gewunden. Aber dieses Mal nicht, ich würde das nicht erneut zulassen.

Wie von der Tarantel gestochen, sprang ich auf. „Bei dem Toten handelt es sich um Raphael Santos. Ich brauche ganz dringend die Telefonnummer von Marc Brady."

Murder - You can't hide [Pausiert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt