Alife

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Sie konzentrierte sich auf die Stimme und langsam entkrampften sich ihre Hände und sie hörte auf zu weinen. Sie konzentrierte sich auf die Stimme und schloss die Augen. Sie Stimme wurde lauter und füllte sie aus, wie Watte ein Kuscheltier. Sie füllte eine Leere, die lange Zeit nichts und niemand hatte füllen können.

Sie wurde immer lauter, aber nicht unangenehm.

Völlig versunken in den Gesang zuckte sie zusammen, als sie plötzlich warme Atemluft in ihrem Nacken spürte. Mit weit aufgerissenen Augen stand sie auf, drehte sich um und starrte direkt in ein bärtiges Gesicht mit zwei dunklen Knopfaugen. Diese ausdrucksstarken Augen hatte sie irgendwo schon einmal gesehen.

Sie wich einen Schritt zurück und versuchte gleichzeitig, nicht in den See zu fallen. Jetzt sah sie, dass die Gestalt vor ihr lange, hellbraune Haare hatte und eine Jeans mit einem Polohemd trug.

"Die Gedanken sind frei,

niemand kann sie verbieten."

Als sie seine Stimme hörte schossen ihr die Tränen in die Augen. Er war es. Er war es wirklich.

Sie warf sich in seine Arme und ließ die Tränen auf sein vom Regen durchnässtes Hemd kullern. Sie roch seinen herben Männergeruch und atmete ihn tief ein. Sechs Jahre. Und jetzt kam er.

Plötzlich stieß er sie weg. Verwirrt schaute sie erst ihn an und dann an sich herunter. Stimmte etwas mit ihr etwa nicht?

Sie hatte das irre Flackern in seinen Augen nicht gesehen.

Als sie aufschaute, war er näher gekommen und schenkte ihr einen zärtlichen Blick.

"Sarafina."

Er sprach immer ihren vollen Namen aus. Andere Leute nannten sie Sara, aber er beließ es nicht dabei. Und bei ihm klang es seltsamerweise nie lächerlich.

"Endlich."

Das wiederum erstaunte sie. Seine Aussprache war beinahe akzentfrei. Seit wann konnte er so gut deutsch?

"Ich habe lange gewartet. Auf dich. Auf uns. Auf diesen Moment."

Ungläubig näherte sie sich einen weiteren Schritt, doch er hob die Hand, um ihr Einhalt zu gebieten. Sie sah wunderschön aus. Anders, als er sie in Erinnerung hatte, aber immer noch wunderschön.

Ihre langen Haare flatterten im Wind und in ihrem Kleid schien sie zu schweben. Sie war bleich, was sie sehr majestätisch wirken ließ und ihre roten Lippen stellten einen starken Kontrast dar. Ein ernster und erstaunter Ausdruck legte sich auf ihre hübschen Gesichtszüge. Sie sah aus wie eine Kriegerprinzessin aus alten Zeiten.

Fast hätte er sein Vorhaben vergessen. Um der alten Zeiten willen schwankte sein Entschluss einen Moment.

Auch er war eine imposante Erscheinung. Seine Haare und sein Bart flatterten ebenfalls im Wind und ließen ihn wild wirken. Er sah so anders aus. Erwachsener. Männlicher. Sie hätte ihn nicht erkannt, wenn er ihr nicht diese besondere Textstelle vorgesungen hätte.

Er war wahrscheinlich der einzige Mensch in ganz London der das Lied kannte. Er holte Luft.

„So lange haben wir uns nicht gesehen."

Sie streckte ihre Hand aus, um seine stoppelige Wange zu berühren, als er plötzlich die Augen zusammenkniff.

"Und du hast dich nie gemeldet. Hast nie angerufen. Nicht ein einziges Mal."

Er knurrte regelrecht. Sie zuckte zusammen.

Wie auch? Wie hätte sie es machen sollen? Sie hatte noch nie in ihrem Leben ein Wort gesprochen. Sie konnte nicht sprechen. Und schreiben hatte sie nicht wollen. Ein Brief konnte nicht das aussagen, was gesprochene Worte oder eine Berührung auslösen konnten.

Er sah sie spöttisch an.

"Ich hätte dich erkannt, glaub mir. Aber ich bin nicht gekommen um dir das zu sagen."

Sie näherte sich ihm wieder und schaute ihn zärtlich an.

"Ich bin auch nicht gekommen, um mich einfach mit dir zu versöhnen. Ich bin hier, um das zu tun, was ich seit deiner Abfahrt habe machen wollen."

Sie verschränkte aufgeregt ihre Hände, als er näher kam. Er ließ seine Hand an ihrem Gesicht heruntergleiten. Sie bekam eine Gänsehaut und erzitterte unter seiner Berührung.
Sie liebte ihn. Immer noch.

"Sarafina."

George, dachte sie. Er fing an sie zu küssen. Wild und ungezähmt erwiderte sie seinen Kuss.

One Day in London | #SpringAwards18 | #DreamAward2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt