Alone

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Die kleine, rote Telefonzelle dort hinten starrte sie förmlich an, sie drängte sich in ihr Blickfeld zu und schien ihr „Benutz mich!" zuzuschreien.
Im Hintergrund hörte sie die Schwäne auf dem See schnattern.

Es war zu lange her. Sie wusste es. Warum saß sie dann noch hier? Hier, auf der grün gestrichenen Parkbank. Hier, in London, so weit entfernt von Zuhause. Genau wie vor sechs Jahren. Und doch anders.
Verändert, im Inneren sowie im Äußeren.

Plötzlich löste sich ihr Zopf und der Wind begann mit ihren bronzenen Haaren zu spielen. Er riss sie von rechts nach links, von links nach rechts. Verknotete sie, entwirrte sie wieder. Er flocht sie nach seinen Regeln. Ließ sie nach seiner Choreografie tanzen.

Mit einer ernergischen Handbewegung strich sie sich ihre langen Haare hinter das Ohr. Immer wieder schaute sie nervös zu der kleinen, roten Telefonzelle hinüber.

Ihre Hände verkrampften sich und die Fingerknöchel setzten sich weiß von der vor Kälte bläulichen Hand ab, als sie die Bank umklammerte.

Sie konnte es nicht. Jetzt nicht.
Es war ein Spiel, das sie jetzt schon seit einigen Stunden spielte. Ein Hin und Her. Ich tu's. Ich tu's nicht. Ich tu's. Ich tu's nicht. Er liebt mich. Er liebt mich nicht.

Es machte keinen Spaß, dieses Spiel.

Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und erhob sich. Mit langsamen Schritten ging sie den Weg entlang und genoss die Ruhe, die nur gelegentlich vom Quaken der Frösche und vom Planschen der Schwäne gestört wurde.

Sie liebte es, allein zu sein. Wenn sie alleine war, fühlte sie sich befreit von allem. Sie konnte die Stille in sich spüren, die sie schon ihr ganzes Leben erfüllte. Und wenn um sie herum niemand laut war, machte ihr diese Stille nichts aus. Im Gegenteil, sie genoss sie.

Nachdenklich setzte sie sich auf den Rasen und beobachtete den See. Er war sehr klar und sie konnte beinahe bis auf den Grund schauen.

Die Regentropfen hinterließen jedes Mal kleiner werdende, kreisförmige Wellen, die das Spiegelbild der Schwäne und Enten verzerrten.

Die Regentropfen erinnerten sie an das Leben. Man hinterlässt Wellen im Leben, überall. Doch irgendwann sind sie verschwunden, und somit auch man selbst. Wenn man sich nicht erinnert, was existiert dann noch von einem? Der Körper verwest, und die Erinnerung irgendwann auch. Alles ist vergänglich.

Auch die Liebe. Dieser Gedanke trieb ihr die Tränen in die Augen und ließ ihr Schauer um Schauer über den Rücken laufen.

Es war zu spät. Wieder musste sie verstohlen zur kleinen, roten Telefonzelle hinüberschauen.

Irgendwann würde sie es tun müssen, das wusste sie.

Leise weinend und zitternd vor Kälte saß sie eine Weile dort im strömenden Regen an dem kleinen See in London. Hin- und hergerissen, obwohl sie keine Wahl hatte.

Und plötzlich hörte sie ein leises Summen.

One Day in London | #SpringAwards18 | #DreamAward2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt