Goodbye

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Schuldgefühle überkamen sie.

War es so? War sie schuld an all dem Schmerz, den er offensichtlich erlitten haben musste? War sie schuld an der Veränderung dieses einst so gütigen, liebevollen Mannes?
Hatte sie mit ihrem Fortgehen ihr eigenes Schicksal unterschrieben?

Ihre Gedanken überschlugen sich und ihr wurde übel.

Im Auge des Sturm aus Angst, Verzweiflung und Enttäuschung, die immer stärker im ihr tobte, machte sich schließlich jedoch eine auf seltsame Weise beruhigende Gewissheit breit.
Das Schicksal, das sie hier zu ereilen schien, hatte sie nicht selbst unterschrieben. Sie hatte durch ihr Handeln damals vielleicht hier und da einen Punkt eingefügt, wo vorher ein Komma hätte sein sollen und dort ihr Schicksal kurz weitergesponnen, wo es eigentlich hätte nicht hinführen sollen, aber im Großen und Ganzen war all dies nicht ihre schuld.

Die Veränderung ihres so geliebten Georges war keine Konsequenz ihres Handels gewesen. Sie hatte ihm vielleicht einen winzigen Stoß gegeben, aber sie hatte dieses Monster nicht erschaffen. Es musste schon immer in ihm geruht haben.

Alles, was sie damals gewollt hatte, war Abstand. Und daraus war eine Flucht geworden. Aber niemals - niemals - hatte sie ihrem George einen solchen Schmerz zufügen wollen.

Egal, was er sagte, sie war nicht schuld. Und sie wollte ihm helfen. So sehr, dass es sie fast zerriss.

Doch sie konnte nicht.

Ungeachtet ihrer Überlegungen nahm er also ihren anderen Arm und zog noch eine Linie in ihre weiße Haut. Und noch eine. Wieder schnappte sie nach Luft. Sie schloss ihre Augen und atmete tief durch. Fast rollte ihr eine Träne aus dem Augenwinkel. Doch genau das wollte er. Das würde sie ihm nicht gönnen.

Ein blutroter Strich gesellte sich zum nächsten und der Schmerz wurde immer allumfassender, wie heißes Metall, das sich langsam durch ihre Adern in ihrem Körper verteilte.

So sehr sie George geliebt hatte, so sehr begann sie dieses Monster vor sich zu hassen.

"Du hast dich nie gemeldet!" Ein weiterer Strich.

"Du."

Er stach das Messer in ihren Oberschenkel und zog es sofort wieder heraus. Sie wurde ruhig. Es nützte nichts, zu weinen oder Angst zu haben. Es war ganz und gar sinnlos.

"Bist."

Er stach es in ihre Wade. Sie atmete langsam ein.

"Schuld."

Er schnitt ihr einmal über die Stirn. Sie atmete langsam aus.

Dann lachte er. Und lachte. Rotes, warmes Blut lief ihre Beine und ihre Arme herunter. Es verschleierte ihre Sicht und brannte in den Augen. Der metallische Geruch biss sich in ihrer Nase fest und ihr wurde schwindelig.

Sie entspannte sich und sank langsam hinunter auf den Boden. Der Schmerz war mittlerweile so allumfassend und erfüllend, dass sie nichts Anderes mehr spürte. Sie wollte schreien, doch es hatte keinen Sinn. Sein Antlitz verschwamm langsam, aber sicher, und die Umrisse der Umgebung liefen ineinander über.

Als sie sich in die Ohnmacht gleiten ließ, spürte sie plötzlich, wie sich der Schmerz in ihrem Mund, auf ihrer Zunge, zu konzentrieren schien. Die brachiale Gewalt explodierte mit einem Schrei und von einem Augenblick auf den anderen konnte sie die Luft auf all die verschiedenen Arten zwischen ihren Stimmbändern fühlen. Ihre Zunge wurde leicht es formten sich Laute, zuerst leise und dann immer lauter.

Schließlich, nach diesem für sie so überwältigendem Prozess, der nur einige Sekunden dauerte, kam das erste und letzte Wort, das sie je in ihrem Leben gesprochen hatte, aus ihrem Mund.

„George." Denn alles, was sie wollte, war George. Nicht das Monster, das er geworden war, sondern ihn, die Liebe ihres Lebens. Ihn, den sie hier gehofft hatte, zu finden. An diesem einen Tag in London.

Aber sie hatte ihn nicht gefunden. Nicht wirklich. Und eine weitere, wenn auch sehr viel beunruhigendere Gewissheit stand jetzt im Auge des langsam abflauenden Sturmes. Sie würde George nicht finden. Nicht in diesem nur noch so kurzen Leben.

Damit endete ihr Leben.

Ihr Herz machte seinen letzten, kräftigen Schlag. Sie spürte es bersten, unfähig, der Trauer und Verzweiflung über ihren Verlust standzuhalten.

Ihre Lunge holte zum letzten Mal Luft. Sie spürte sie sich zusammenziehen, wie sie sich weigerte, weiter eine Luft zu atmen, die nie wieder auch George zur Verfügung stehen würde.

Dann spürte sie, wie etwas Nasses auf ihre Wange fiel. Etwas, das wärmer war als die Regentropfen, die sie unaufhörlich trafen. Etwas wie eine Träne.

Und plötzlich war es still.

Er hockte neben ihr und schluchzte.
Ob es nun das Monster war oder George, vermochte in diesem Moment niemand zu sagen.
Ihr erstes und letztes Wort in ihrem Leben hatte ihm gegolten. Und er hatte sie getötet. Kaltblütig umgebracht. Während er neben ihr zusammenbrach, lag sie friedlich in strömenden Regen auf dem Rasen und schlief. Die Hände verschränkt, hoffentlich reinen Herzens und wunderschön lag sie dort und schlief.
Schlief für immer.
Für immer, unwiderruflich.
Unveränderlich.


Die kleine, rote Telefonzelle stand weiterhin ganz unberührt dort hinten und auch die Schwäne auf dem kleinen See kümmerten sich nicht um das Unglück, das sich in unmittelbarer Nähe ereignete.

In ihrem Leben bewirkte all das keine Veränderung.

Und ob das gut oder schlecht ist, diese Antwort kann nun wirklich niemand geben.

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