Kapitel Dreiundzwanzig

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„Lass ihn, er braucht jetzt Zeit für sich." James taucht hinter mir auf. Das Motorrad ist schon lange verschwunden, die Straße gähnend leer. Trotzdem stehe ich noch hier und sehe ihm nach. Das Ganze war ein einziges Desaster.

Nickend stimme ich ihm zu. James streicht über meinen Arm.

„Wenn du willst, komm rein", bietet er mir an. Ich schüttle den Kopf, den Blick immer noch auf der Straße.

„Ich glaube, ich bin das letzte, das deine Eltern sehen wollen." Verständlicherweise. Vielleicht war es aber keine so gute Idee, hierherzukommen und zu denken, ich könnte diese Wunde zwischen Grey und seinen Eltern kitten.

„Quatsch", streitet er ab. „Sie wissen, dass es nicht von dir kommt. Außerdem hat Mama sich gefreut, dass du hier bist."

„Okay." Ich sehe zu James, der mir aufmunternd zulächelt. Obwohl das Wetter noch gut ist, liegt eine ungewöhnliche Schwere in der Luft. Ich friere trotz der angenehmen Temperaturen.

Er geht vor und ich gehe ihm, ohne ein Wort zu sagen, hinterher. Die Stimmung hätte noch so gut sein können, wenn Grey nicht aus der Haut gefahren wäre.

Obwohl ich gehofft hatte, dass James mich nicht alleine lässt, entschuldigt er sich kurz, kaum dass wir wieder im Haus sind, und lässt mich alleine stehen. Unsicher gehe ich ins Esszimmer, wo Judith bereits dabei ist, das ganze Geschirr und Essen zu beseitigen.

„Soll ich dir helfen?" Ihr Kopf schnellt in meine Richtung. Sie ringt sich ein leichtes Lächeln ab. Mir entgehen die roten, geschwollenen Augen nicht. Sie muss einen ganzen See geweint haben, während ich nur draußen stand und Grey nachgesehen habe.

Ohne noch etwas zu sagen, helfe ich ihr, die Essensreste im Mülleimer verschwinden zu lassen und das Geschirr in den Geschirrspüler einzuräumen. Judith ist so ein netter Mensch, ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Umständen kennengelernt.

Nach und nach leert sich der Tisch, den sie eigentlich so liebevoll dekoriert hat. Bis irgendwann nur noch ein Läufer darüber liegt und ein paar Blumen in der Mitte stehen. Die dunkle Eiche scheint erst so hart in dem hellen und geräumigen Esszimmer, aber irgendwie bringt dieser Tisch das gewisse Etwas.

Mein Blick fällt auf die Wand gegenüber, wo einige Bilderrahmen hängen. Alle sind weiß, mit einer Ausnahme.

Mit verschränkten Armen stelle ich mich vor die Wand um alles genauer anzusehen. Es sind vor allem Familienfotos von Judiths und Jacks Hochzeit, Konfirmationen ihrer Kinder, Babybilder und Abschlussfotos.

Auf fast keinem ist Grey zu sehen. Vor allem ist es July, die mir ins Auge sticht. Sie hat ein wunderschönes Lächeln und die gleichen dunklen Augen wie Grey. Ich frage mich, was sie vor dem Unfall für eine Person gewesen ist. Genauso wie Judith hätte ich sie gemocht, da bin ich mir sicher.

„Ich würde sie nie ersetzen", kommt es plötzlich von meiner Rechten. Mein Kopf schnellt zu Judith, die neben mir steht und die Bilder betrachtet. Ein trauriges Lächeln legt sich auf ihre Lippen. „Das wäre nicht möglich", fährt sie fort. „Bitte denk nicht so von mir." Sie schaut kurz zu mir rüber.

Ich schüttle den Kopf und schaue wieder auf die Bilder. „Ich weiß." Ist das Einzige, das mir über die Lippen kommt. July ist geliebt worden, man spürt es mit jedem Wort, das über sie gesprochen wird.

„Hat Grey ... hat er ... es dir erzählt?" Judith schluckt. Ich sehe zu ihr, aber sie sieht weiterhin nur auf die vielen Bilder ihrer Kinder.

„Ja", antworte ich nickend. „Er ist so verletzt, manchmal da sehe ich immer noch den kleinen Jungen in ihm, aber das ist er nicht mehr." Meine Augen wandern zu der Halskette, die Judith trägt. Sie ist fein, schnell zu übersehen und golden. Ihre manikürten Finger spielen nervös mit dem kleinen Anhänger.

GREYWo Geschichten leben. Entdecke jetzt