Eine ungewöhnliche Entdeckung (I)

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Kreationstag

    „Ergebenster Leser, ich habe gesündigt", sagte Marina Fünftag. Ihre Stimme zitterte vor Aufregung.
„Ich habe ja schon erzählt, dass sich viel ändert. Aber ich spüre es, lieber Leser, dass etwas vor sich geht. Auch wenn es naiv ist: Ich glaube, die Zeit ist gekommen. Der Erschaffer hat mich erwählt, warum auch immer. Ich darf diese Geschichte fortsetzen.
Doch wann werde ich gerichtet? Wann darf ich Dir begegnen? Wann kann ich endlich sehen, was Du siehst? Wann wird es möglich sein, Deine Hand zu halten?
Siehst Du meine Sünde?"
Die Wand, mit der das Mädchen sprach und auch wieder nicht sprach, hatte einen unauffälligen, schmutzigen Grauton. Er sollte nicht ablenken von den Worten, die in diesem Raum gesagt wurden.
Marina fühlte sich hier zuhause, so war sie hier ein Stück näher am Leser.
Nervös wickelte das Mädchen ihre blonden, welligen Haare um die Finger ihrer rechten Hand. Wenngleich die Stille wunderschön war, Marina wünschte sich ein Gegenüber herbei, jemand, der ihr tatsächlich zuhörte, jemand, der sie wirklich verstand. Sie wusste, dass es so jemanden gab, und sie wusste gleichzeitig, dass sie diese Person nie sehen würde, wenn sie nicht glaubte.
Wie beiläufig nahm sie das Gespräch wieder auf, das ein Dialog sein sollte und immer ein Monolog bleiben würde.
„Ich liebe die Sprache, Leser. So wie Du, sonst würdest du nicht diese Zeilen lesen. Ich liebe es, zu reden, mit Dir zu reden. In meiner Welt hört man nicht hin, da liest man nur die Lippen, die Ohren hören Worte, aber die feinsten Nuancen – selbst ich höre sie nicht.
Meine einzige Chance geht durch den Erschaffer. Leser, hilf mir, damit ich zu Dir komme! Damit ich in Deine Augen sehen kann!" Verzweifelt blickten helle, leuchtende Augen an die bröckelnde Decke des Raums. Marinas Beichte war wieder zu einem Gebet geworden, so wie jedes Mal.
Ihr einziges Ziel war es, Heiligensand zu entkommen – und trotzdem wäre sie nie auf die Idee gekommen, die Insel zu verlassen. Marina glaubte an den Erschaffermythos, wie beinahe alle Mitglieder der Zivilisation.
Durch ein Fenster in der Decke schien Licht in die kleine Kammer. Sein Schein war beinahe magisch, Staub tanzte in den Strahlen.
Marina hatte nur Augen für die Anwesenheit des unsichtbaren Lesers, der wie ein Schutzengel über sie wachte.
Mit einem Seufzen richtete sie ihr mintgrünes Sommerkleid mit den feinen Verzierungen aus Spitze. Sie liebte dieses Kleidungsstück, schon immer hatte es ein besonderes Gefühl umgeben. Vielleicht lag es daran, dass sie spürte, wie die Geschichte begann, ihre Fäden zu Strängen zu spinnen, die letztendlich einen großen, roten Faden webten.
All die Verletzlichkeit, ihre Wünsche, Träume, Hoffnungen, ließ sie in der Kammer beim Leser und trat auf den gläsernen Flur mit einem breiten Lächeln, das sogar ihre Augen erreichte. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick auf die hohen Türme, die sich Heiligenstadt nannten.
Der Ort bestand aus gläsernen Wolkenkratzern und einigen wenigen Backsteingebäuden. In dem hellen Sommerlicht glänzten sie einmalig, wie ein funkelnder Diamant aus den Tiefen der Ressourcenberge – eine seltene Sichtung zwischen Backsteinen, neuen Plänen und Ideen oder anderen Rohstoffen, die dort abgebaut wurden.
Am Horizont erstreckte sich zu allen Seiten das dunkelblaue, vergessene Meer. Sein Anblick bereitete Marina jedes Mal Unbehagen, es zeigte die Schutzlosigkeit und Einmaligkeit Heiligensands viel zu stark.
Noch nie hatte es jemand durchquert, seit der Erschaffung der 13 Gründer nicht. Zwar gab es Fischerboote, aber sie waren nicht dazu ausgelegt, aufs hohe Meer zu fahren. Dafür hatte der Erschaffer gesorgt.
Marina lächelte noch übertriebener mit weißblitzenden Zähnen, als sie Morgane erblickte. Schlüsselverwahrer mussten immer geehrt werden, das wurde schon den Kindern beigebracht.
„Marina!", rief die alte Frau. Sie trug einen altmodischen, knöchellangen Rock, der Marinas Meinung nach ein grausiges Blumenmuster besaß, und eine farblose, ausgewaschene Bluse. Trotzdem respektierte Marina die Dame, schließlich war sie die Leiterin dieses Erschafferhauses, das wie ein wachender Hund in der obersten Etage eines Hochhauses lag. Als Schlüsselverwahrerin hütete Morgane wortwörtlich die Schlüssel zu den einzelnen Gesprächskammern, in denen die Figuren ihr Leid loswerden durften – der Beruf war eine ehrenvolle und angesehene Aufgabe.
„Schön, dass du hier bist!", sagte Morgane mit einem breiten Lächeln. Ihre knochigen Arme umschlossen Marina fest.
„Ja, meine Familie und ich wollen jetzt mindestens jeden Kreationstag kommen. Ich habe sie endlich überzeugen können, ist das nicht toll?" Strahlend löste sie sich von der alten Frau.
„Sag mir, wie geht es Leja und Talia? Ich habe gehört, dass sie die Heiler besser bezahlen wollen. Hat Talia schon davon profitieren können?"
Talia arbeitete im Figurenkrankenhaus seit ihrer abgeschlossenen Ausbildung.
„Sie hat noch nichts davon erzählt. Vielleicht kann sie dann endlich ihre eigene Wohnung mieten", folgerte sie. Das Gesicht der alten Frau wurde beinahe mitleidig.
„Ach ja, Marina... deine Mutter arbeitet hart, das weiß ich, aber ich wünsche euch zusätzlich viel Glück. Ihr schafft das. Die Wege des Erschaffers sind unergründlich, aber alles ergibt einen Sinn. Früher oder später."
Marina hielt den Blickkontakt, auch wenn sie wusste, dass Morgane über ihren Vater sprach. Ein Thema, das sie mied, weil es das Einzige war, das ihr die Sprache verschlug.
„Wie kann ich mich hier noch stärker einbringen?", lenkte Marina geschickt ab. „Ich komme zwar jede Woche, aber ich möchte mehr machen. Ich möchte dem Erschaffer einen guten Dienst erweisen, ich möchte gutes Karma sammeln." Ihr Blick wurde durchdringend, das konnte sie sehr gut.
Morgane schien den Themenwechsel verstanden zu haben, denn sie nickte gutmütig.
„Hast du schon eine Vorstellung, was du nach deinen Abschlussprüfungen machen möchtest?"
Marina zuckte mit den Schultern. Sie ignorierte taktvoll die Tatsache, dass alle Prüfungen schon längst vorbei waren. Schlüsselverwahrer waren dafür bekannt, selten den Boden der Stadt zu berühren. Mithilfe kleiner Drohnen begaben sie sich von einem Erschafferhaus zum nächsten, eine Technologie, die vor wenigen Zyklen in den Ressourcenbergen entdeckt worden war.
„Mutter möchte, dass ich in den Rat gehe, weil die Arbeitsplätze dort sicher sind."
Anerkennend nickte Morgane. „Und was möchtest du?"
Das junge Mädchen fing an zu reden, ohne die Antwort zu wissen. Ein Talent, das Marina durch ihre Schulzeit gebracht hatte. „Ich möchte etwas Bedeutungsvolles für diese Geschichte tun", wich sie aus. „Ich möchte konform leben, damit ich für den Tag des Richtens vorbereitet bin."
Morgane lächelte. „Das ist vernünftig, Marina. Viel zu wenig Bewohner von Heiligensand machen sich die Wichtigkeit und das Ausmaß von Karma klar. Unser Leben hier ist temporär, bis uns der Erschaffer erhebt. So soll es sein."
In und auswendig kannte Marina den Erschaffermythos. Einst begann der Erschaffer, Worte zu formen, unbewusst eine Welt zu schaffen. Am Anfang waren 13 Gründer auf einer reichhaltigen Insel, sieben Frauen und sechs Männer. Sie wachten auf der Erschafferhöhe auf, wo heutzutage zu ihren Ehren noch immer ein Tempel steht, der von 13 repräsentativen Mitgliedern der Gemeinschaft bewohnt wurde. Die Zivilisation entstand, der Glauben entwickelte sich.
Wenn die Geschichte vorbei sein würde, dann existiere ein Gericht um zu trennen die Guten, Gläubigen von den Bösen, Ungläubigen. Während die einen ins wahre Leben erhoben werden, verschwinden die anderen im Nichts.
„Deswegen sollten wir unser klägliches Leben in der Geschichte darauf ausrichten, konform zu sein", erläuterte Morgane mit energischem Tonfall. Marina pflichtete ihr bei.
„Mein Kind, hast du schon einmal darüber nachgedacht, dich auf die Gründerehre zu bewerben?", fragte die Ältere.
Überrascht schaute Marina sie an. Tatsächlich war ihr noch nicht der Gedanke gekommen, ihr Leben vollständig auf den Erschaffer auszurichten, da war immer noch der Funke in ihr, der an ihrem Leben als Schülerin, Freundin, Schwester oder Tochter hing. War sie bereit, alles für den Leser aufzugeben?
„Du musst alles für den Erschaffer aufgeben", erläuterte Morgane und korrigierte damit unbewusst Marinas Gedanken. Diese fühlte sich ertappt. Ihr Motiv war es, endlich zum Leser zu gelangen, der ihre Beichten verwahrte. Den Erschaffer verfluchte sie insgeheim. Seinetwegen war sie gefangen auf dieser Insel, so weit vom Leser entfernt.
„Das klingt verlockend", gab Marina zu, denn dadurch würde sie ihr Weiterleben in der echten Welt garantieren können, oder? „Aber ich muss darüber nachdenken, Morgane. Wie geht es dir sonst so? Was macht der Rücken?" Bewusst hielt Marina das Gespräch oberflächlich – so, wie sie es mochte, wenn sie unsicher war.
„Ach, der Erschaffer plagt mich auf meine alten Tage", sagte Morgane mit einem schmerzenden Lächeln. Physische Krankheiten oder Anomalien kamen direkt vom Erschaffer, das wusste man, nur er war in der Lage sie zu erzeugen oder zu heilen.
Der Smalltalk hielt nicht lange an, da kamen endlich Marinas Mutter Thea sowie ihre beiden Schwestern Talia und Leja aus ihren Kammern. Thea mochte es nicht, wie Morgane mit Marina sprach, sie hatte vor kurzem dieses Funkeln in den Augen ihrer Tochter entdeckt, das ihr Bauchschmerzen bereitete. Sie war eine ausgesprochen starke Frau und sorgte seit viereinhalb Jahren allein für ihre Kinder. Ihr Mann war bei einem Bergbauunglück in den Ressourcenbergen verstorben.
Mit einem ängstlichen Seitenblick zu Morgane und einer gemurmelten Verabschiedung zog sie Marina mit sich. Talia und Leja folgten, beide wirkten eingeschüchtert.
Tatsächlich war dies eine legitime Reaktion auf Morgane.
Was Marina keineswegs bemerkt hatte, waren die kleinen Rätsel, die die Frau aufwarf. Warum trug sie zwei unterschiedliche Schuhe? Warum blitzten ihre Augen beinahe violett? Wieso war ihr Rücken so krumm? Und die Haare, wieso waren sie so verfilzt? Warum war sie so knochig, wieso bekam sie in dieser Wohlstandsgesellschaft nicht genug zu essen, vor allem in ihrer Position?
Und dann war da noch ihre Stimme, die immer einen drohenden, ja beinahe verrückten Klang transportierte. Morgane war seit Zyklen nicht mehr auf dem Boden gewesen und war nur unter anderen Schlüsselverwahrern verkehrt. Zweifellos würde sie ihr Leben – und das anderer – zum Wohl des Erschaffers opfern.
Immer seltener entschlossen sich Bewohner von Heiligensand in dieses Hochhaus unter Morgane zu ziehen – mit dem Umzug wechselte man schließlich auch sein Beichthaus. Die Mieten waren dementsprechend gesunken. Dies war einer der Hauptgründe, warum Thea mit ihren Kindern hergezogen war. Hätte sie von der Wirkung der Alten auf ihre mittlere Tochter gewusst, wäre sie nie diesen Schritt gegangen. Irgendwie hätte Thea eine andere Lösung gefunden, über einige der wenigen Verwandten, oder über die zentrale Verteilungsstelle der Stadtverwaltung.
Nun war die Wohnung eingerichtet, die Nachbarn kennengelernt, Schulwechsel vollbracht. Kein Weg führte zurück, nur der Weg nach vorn war für Marina – nach Theas Sichtweise – eindeutig der Falsche.
Die Familie begab sich auf den Weg in den zwölften Stock, in dem ihre Vierzimmerwohnung lag. Sie war geräumig, aber es gab kein Wohnzimmer, sodass der Lebensmittelpunkt der Vier in der Küche lag. Dort aß und kochte man nicht nur, es wurden auch Gerüchte ausgetauscht, Hausaufgaben gemacht, gestritten und wieder vertragen, Nachrichten geschaut.
In dieses Kleinod, wie Thea es gern bezeichnete, führte es die vier Frauen. Spannung lag in der Luft, wie das Surren des Funkmasts auf dem höchsten Hochhaus der Stadt.
„Marina", setzte Thea an, doch die nach unserer Rechnung 18-Jährige, schaute nicht einmal von ihrer digitalen Glasplatte auf und seufzte nur theatralisch auf. Sie wusste, was jetzt kommen würde. Jeden einzelnen Satz konnte sie mittlerweile auswendig zitieren. Doch ihre Mutter lebte schließlich nicht ihr Leben, sagte Marina sich an dieser Stelle immer und schaltete ab.
„Hör zu, Mama", unterbrach sie die Ältere. Talia schaute spöttisch zu ihrer kleinen Schwester, Leja machte große Augen. „Ich treffe mich mit einigen Schulfreunden am Strand. Ich muss in zehn Minuten los." Sie schaute immer noch nicht zu ihrer Mutter.
„Heute Abend reden wir darüber", setzte Thea nach, als Marina aus der Küche schlurfte, ohne Recht hinzuschauen, wo sie eigentlich hinging. Nach den vier Jahren, die sie hier schon wohnten, fand sie sich immerhin blind zurecht.
Die drei Frauen, die in der Küche geblieben waren, schauten sich entgeistert an.

Hallo! Ich melde mich auch mal wieder... Am zweiten Tag der Challenge nun endlich der erste Teil des ersten Kapitels. Ich hoffe, ich habe euch noch nicht enttäuscht :) Ich wollte eigentlich einen anderen Cut setzen, aber der Teil ist nun schon recht lang geworden... da sind wohl die Ideen mit mir durchgegangen :D
Wenn dir das Kapitel gefallen hat, lass doch gern ein Sternchen da. Und wenn nicht, schreib mir in einem Kommentar, warum! <3 #richtiglikegeilheute

LG, Merle

Zeilengespenster #catalyst500Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt