Ein unschönes Erwachen (I)

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Das ist alles Karinas Schuld, dachte Cynthia Gründertag, als sie ihre Augen aufschlug und die altbekannte Decke des Figurenkrankenhauses erblickte.

Noch ganz benommen von den Medikamenten, die man ihr mit langen, ekelhaften Spitzen verabreicht hatte, Stoffe, die man durch Löcher in ihrer durchscheinenden Haut in ihre Blutbahnen transportiert hatte, Löcher, die man mit winzigen Pflastern vertuscht hatte...

Cynthia schüttelte sich. Worüber hatte sie schon wieder nachgedacht?

Sie gab zu, durch die Medikamente noch zerstreuter als sonst zu sein. Aber dieses Mal, dieses Mal war es wirklich nicht ihre Schuld gewesen.

Da lief etwas ganz falsch in Heiligenstadt, und niemand außer ihr selbst schien es zu sehen. Oder sehen zu wollen.

„Es tut mir leid, Cynthia", hörte sie noch den Nachhall von Karinas Stimme in ihren Ohren. Es war völlig unerwartet gewesen. Karina war eine graue Maus mit braunen Haaren, braunen Augen und spitzen Gesichtszügen. Ihr fliehendes Kinn verleitete Cynthia immer dazu, sie mit einem Hamster zu vergleichen. Oder einer fiesen Ratte. Dieser Gedanke brachte die junge Frau zum Lächeln.

Jedenfalls war sie bei der Arbeit eine ihrer liebsten Kolleginnen gewesen, weil ihr Cynthia genug gewesen war und sie mit ihrer nicht gerade einfachen Art zurechtgekommen war, ohne sich über sie zu belustigen oder sie runterzumachen – Erfahrungen, die Cynthia über die Jahre hatte sammeln dürfen.

Ihre Tat warf nun allerdings sehr viele Fragen auf – vor allem die nach ihrer Motivation.

Cynthias letzte Erinnerung, bevor sie vor wenigen Momenten die Augen aufgeschlagen hatte, hatte sich auf dem Pausenbalkon abgespielt. Wie Karina machte die junge Frau eine Ausbildung zur Berichterstatterin. Das waren diese Menschen, die im Fernsehen über Kleinigkeiten berichteten, die den Tag über geschehen waren, oder über Entscheidungen des Rates oder des Senators.

Cynthia war ein eher kritischer Mensch. Schon in ihrer Kindheit hatte sie ihre Eltern und deren Leben nicht akzeptiert. Sie war in einer Villa in einem sehr wohlhabenden Vorort Heiligenstadts aufgewachsen. Ihre Mutter war seit Jahren im Rat tätig, ihr Vater in der eher untergeordneten Stadtverwaltung. Cynthia mochte es nicht, wenn sie die gierigen Blicke sah von den Leuten, die auf ihre kalten Familienbeziehungen und unendlich langen Abendessen neidisch waren. Ihr Hass richtete sich gegen das Familienerbe und ihr Ziel als werdende Berichterstatterin war, alles aufzudecken, was im Rat und in der Verwaltung verbrochen wurde – und da war einiges zu finden, von Korruption bis Schwarzhandel. Vor allem, weil der Rat eine unabsetzbare Institution war, berufen und entlassen durch den Willen des Senatoren, der seit viel zu vielen Zyklen im Amt war.

„Willst du auch eine?", hatte Karina Cynthia gefragt und ihr die Zigarettenschachtel hingehalten.

„Ich rauche nicht", hatte sie kalt geantwortet. Es war wieder einer dieser Tage gewesen, an denen sie nicht wollte. Nichts schien richtig, und die Mühe, sich zu unterhalten, schien den Nutzen nicht wert.

Karinas Blick, der von aufgeschlossen zu mitleidig und beinahe schuldig gewechselt hatte, hatte Cynthia irritiert.

„Ist alles in Ordnung?", hatte sie sich erkundigt.

In dem Moment war die Fassade in Karinas Gesicht gebrochen, aus ihrer zittrigen Hand war die halbangezündete Zigarette auf den steingefliesten Boden gefallen.

Wie aus dem Nichts hatte sie eine Spritze hervorgezogen. Blitzschnell war es gegangen, sodass Cynthia nicht hatte reagieren können. Die schreckliche Nadel hatte in ihr Herzrasen ausgelöst, kurz bevor das spitze Ende gezielt die dünne Haut an ihrem Hals durchstochen hatte. Cynthia hatte noch gespürt, wie Karinas immerkalte Hand ihre schulterlangen, dunkelblonden Haare gestreift hatte.

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