Ein unschönes Erwachen (II)

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Die Gesichtszüge wirkten einerseits merkwürdig verzogen, andererseits passten sie hervorragend zusammen. Hohe Wangenknochen lagen unter mandelförmigen Augen, die merkwürdigerweise keine Lidfalte zu besitzen schienen. Auch sie waren dunkel wie das Haar des jungen Mannes und trugen einen verschmitzten Schimmer in sich. Vielleicht rief auch sein halbes Lächeln diese Wirkung hervor, bei dem sich die glatte Haut ein wenig in Falten legte. Das längliche Gesicht des Mannes setzte sich bei seiner Nase fort, sie war breit und irgendwie – platt, aber besaß proportional genau die richtige Größe für den Kopf. Ein winziger, dunkler Leberfleck saß wie ein perfekter Makel kurz unter den schmalen Augenringen des rechten Auges. Die strubbligen, fransigen Haare versteckten einen Großteil der ohnehin eher flachen Stirn des Mannes.
Aber es war die merkwürdige Plattheit und die Form seiner Augen, die Cynthia so sehr faszinierte, dass sie gar nicht bemerkte, wie sie ihn anstarrte.
Erst als er sich ein wenig bewegte, die langen Arme hinter dem Rücken verschränkte, schaute Cynthia beschämt auf ihr Bettzeug. Wie unhöflich von ihr, bei seinem Aussehen musste ihm das ständig passieren.
Andererseits war er auf der richtigen Seite der Glastür; sie saß hier drinnen fest, während er frei war. Als die junge Frau wieder aufblickte, war der junge Mann von der Tür verschwunden. Seine Anwesenheit und sein plötzliches Verschwinden irritierte sie. War auch er von einer Neugier getrieben worden?
Der Film, der mittlerweile die einzelnen Stadtviertel von Heiligenstadt erwähnte, war kaum mehr als eine Hintergrundmusik für Cynthias Gedanken. Sie versuchte, sich möglichst wieder menschlich herzurichten – die zerzausten, blonden Haare mit den Fingern durchkämmen, Augen von getrockneter Tränenflüssigkeit befreien, das Nachthemd richten. Was hätte sie für einen Spiegel getan, doch sie wusste, dass diese auf Station verpönt waren – angeblich aus psychologischen Gründen. Sie nahm an, dass man nicht scharf darauf war zu sehen, wie Patienten die Auswirkungen der Medikamente in ihren Gesichtern entdecken würden.
Bei jedem ihrer Aufenthalte war die vollschlanke Cynthia aufgegangen wie ein Hefekloß, es hatte immer viel Mühe gekostet, die lästigen Pfunde wieder zu verlieren. Ihre Augenringe waren tiefer geworden und das Gesicht beinahe dauerhaft gerötet gewesen.
Nein, so wollte sie dieses Mal nicht enden. Schließlich hatte sie erstmals kein eigenes Problem, das sie hergeführt hatte. Tatsächlich ging es ihr recht gut. Seit einigen Wochen schon...
Cynthia dachte an ein freundliches, rundes Gesicht und ein jungenhaftes Lächeln. Damit hatte das natürlich nichts zu tun, das wollte sie sich nicht eingestehen. Was auch immer gewesen war, nun war es vorbei, mit kranken Figuren wollte nämlich niemand etwas zu tun haben. Sie waren Aussätzige in einer Gesellschaft der perfekten Uniformität.
Noch bevor Cynthia überhaupt bemerkt hatte, dass der Film geendet hatte, schob man sie aus dem Raum.
„Ich kann auch laufen", fauchte sie widerspenstig. Die beiden unscheinbaren Pfleger wechselten einen aussagekräftigen Blick. Man behandelte sie schon wieder so, wie einen Fehler, der sich selbst nicht erkennen konnte.
Seufzend ließ sie sich in die weichen Daunen fallen und verschränkte demonstrativ die Arme. So ungemütlich war es gar nicht, sich gehen zu lassen, nichts zu tun. Es wurde doch alles geregelt, nicht wahr? Man würde sich um sie kümmern. Sie musste nur auf das System vertrauen und all ihre Sorgen wären vergessen, nie wieder würde eine Ziege wie diese Karina ihr Probleme bereiten.
Erschrocken von den eigenen, trägen Gedanken schluckte Cynthia. Was hatte man ihr gegeben? Es war anders als die letzten Male, das spürte sie. Man musste in den Ressourcenbergen etwas Scheußliches gefunden haben, etwas, das nicht nur das Wohlbefinden der Psyche, sondern auch die Gedanken beeinflusste. Zumindest wollte sie sich damit ihre Trägheit erklären.
Das orange-weiße Zimmer empfing sie mit offenen Armen.
Eine Weile starrte Cynthia die Decke an und wollte nichts anderes tun. Manchmal ergreift einen dieser Unwillen, wie wenn man müde in der Untergrundbahn sitzt, auf dem Weg zu einem wichtigen Termin, und man nicht ankommen will, weil der Sitz zu bequem, die Musik zu gut, das Magnetrauschen zu einschläfernd ist. Die völlige Reizlosigkeit des Raums, seine Stille und die Farblosigkeit seiner Decke brachten Cynthia zum Denken. Ihr kam Musik in den Sinn, ein Ohrwurm, der ständig gespielt wurde. Das Bild von Karina tanzte über die Decke wie über die Leinwand eines Filmtheaters, verfolgt von dem Anblick eines Mannes, den Cynthia anfing, zu vermissen.
Und dann war da noch das Antlitz des Fremden mit den pechschwarzen Haaren. Wer war er? Und wieso sah er so merkwürdig aus?
Als dann schließlich die Tür zu dem Raum aufging, wollte Cynthia am liebsten, dass die hereinkommende Person wieder verschwand, nur damit sie ihren ziellosen Gedanken weiterhin folgen durfte. Murrend drehte sie sich dorthin, wo das Geräusch von ledernen Sohlen auf sterilem Boden hergekommen war, und entdeckte eine junge Frau. Sie nahm an, dass ihr vorhin die säuselnde Stimme gehört hatte. Beinahe kleinwüchsig sah sie aus und hatte langes, welliges Haar – ein wenig heller als ihr Eigenes.
„Ich begleite Sie zu Ihrem ersten Treffen, Frau Gründertag", sagte sie bestimmt.
„Jetzt schon?", erwiderte die Patientin. „Sollen wir uns nicht ausruhen, bevor irgendetwas anfängt? Die letzten Male..." Fast sehnsüchtig klang Cynthia nun.
„Oh nein, nein. Unsere Behandlung hat sich ein wenig verändert." Ein Lächeln schlich sich auf das Gesicht der Frau, doch dazu kam ein leicht gehetzter Ausdruck in ihren Augen. Vielleicht litt Cynthia auch unter Verfolgungswahn. „Ich bin übrigens Talia und für die physische Aktivität unserer Gäste zuständig." Bewusst schien sie es zu vermeiden, das Wort Patient zu gebrauchen.
„Physische Aktivität?", hakte Cynthia nach. „Wozu denn das?"
„Physische Aktivität löst Glückshormone aus, die unseren Gästen den Wiedereinstieg in ihr Leben vereinfachen."
Perplex musterte Cynthia das Mädchen, ihrer Größe nach konnte sie nicht älter als 20 Zyklen sein, doch da waren diese Falten um ihre leicht zusammengekniffenen Augen, die etwas anderes vermuten ließen... Sie sah sehr stark aus, wie ein kleines Energiebündel. Gerade Gesichtszüge wurden von Muttermalen gesprenkelt, dunkle Augen funkelten sie erwartungsvoll an. Mit der Hand deutete sie, dass Cynthia ihr folgen sollte.
„Wenn's denn sein muss", gab sie nach und rutschte auf die Bettkante. Vor ihren Augen blitzten schwarze Sternchen auf, ein Zeichen ihres Kreislaufs, das Cynthia sehr gut kannte. In ihren jüngeren Zyklen hatte das Wachstum sie häufig verursacht. Die junge Frau überragte Talia im Stehen um gut zwei Köpfe. Unterbewusst ließ sie ihre Schultern sinken und reckte ihren Kopf ein wenig nach vorn, um kleiner zu wirken.
Früher als erwartet und nur noch ein bisschen benommen folgte Cynthia der Heilerin Talia. Sie gelangten auf einen Flur, der nach Essen roch und ebenfalls orange war. Cynthia konnte ihn auf der Stelle nicht ausstehen.
Ab und an erhaschte sie einen Blick auf ein Fenster und stellte fest, dass sie sich mindestens im zehnten Stock befanden – die Fahrräder und Menschen waren durch die anderen Hochhäuser verdeckt und somit nicht mehr zu sehen.
Talia führte die junge Frau zu einem Zimmer, an dessen Tür in unauffälligen Lettern „Therapie" geschrieben stand.
„Kim wartet darin schon auf dich", erklärte Talia und lächelte aufmunternd zu der Patientin hinauf. „Er war schon gespannt darauf, dich kennenzulernen."
Ein wenig unsicher drehte Cynthia sich zu der weißen Tür. Langsam drückte sie die Klinke hinunter und stieß die Tür auf.
In dem Raum stand ein breites Sofa gegenüber einem Sessel. Dazwischen war ein niedriger Glastisch. Die Wände waren getäfelt und machten einen gemütlichen, ebenso altmodischen Eindruck. Cynthia betrat ihn, die Tür schloss sich sogleich hinter ihr.
Auf dem einzelnen Sessel saß der junge Mann mit rabenschwarzem Haar – der Mann, den Cynthia durch die Glastür gesehen hatte.
Ein merkwürdiges Schauern durchlief sie. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht, das spürte sie.
„Hallo Cynthia", sagte er mit kehliger Stimme. „Setz dich doch!"

Hm, das war gar nicht so einfach zu schreiben - weil nicht wirklich was passiert ^^

Keine Angst, das wird sich im nächsten Teil wieder ändern! Momentan liege ich bei 7175 Wörtern. Morgen habe ich sehr viel Zeit zu überbrücken, deswegen setze ich mir das Ziel, bis übermorgen die 10000 zu knacken. Auf jeden Fall möchte ich vermeiden, mich am Ende der Challenge stressen zu müssen, und da hilft der Puffer :) 
Wie läuft es bei euch?
LG, Merle

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 11, 2018 ⏰

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