Nicht ganz eine Woche später stand sie am frühesten Morgen todmüde in dem kleinen Café, das sich ihr Arbeitsplatz schimpfte, und verfluchte ihre unglaubliche Naivität, die sie dazu gebracht hatte, Jacques nicht einmal nach seiner Nummer zu fragen, bevor er gegangen war. Sie war sich sicher gewesen, ihn einfach im Vapeur Bleue wieder zu treffen, aber sie hatte die letzten sechs Nächte umsonst dort gesessen. Er war nicht aufgetaucht.
Sie seufzte und beugte sich vornüber, um neue Brötchen in die Theke zu räumen. Die Ladenglocke ertönte und sie richtete sich schwerfällig auf, darauf achtend, sich nicht wieder den Kopf an der Glasplatte zu stoßen.
Sie setzte ein gekünseltes Lächeln auf und richtete ihren Blick auf den Kunden. Doch innerhalb von Sekunden begannen ihre Augen zu strahlen, als sie ihm ins Gesicht sah."Hi",
sagte sie leise, ihre Stimme wollte in dieser Sekunde einfach nicht mehr hergeben, aber das war auch nicht so schlimm, da sich außer ihm sowieso niemand im Laden aufhielt.
"Hi."
Er antwortete etwas verlegen, fast so, als hätte er nicht damit gerechnet, dass sie jemals wieder mit ihm spräche, aber er wirkte nicht abweisend.
Jemand räusperte sich, und da erst bemerkte Sam den Mann, der schräg hinter Jacques stand. Er war beinahe so groß wie sie, hatte leuchtend türkisfarbene Haare und trug ein sehr farbenfrohes Galaxy-Shirt."Bitteschön, was darf es denn sein?"
Himmel, wie einstudiert dieser Satz wirken musste!
Der Größere grinste und lehnte sich auf Jacques Schulter.
"Am liebsten hätte er hier ja dich, Chérie, aber vorläufig wird er sich auch mit einem Nougatcroissant begnügen. Und für mich bitte dieses Törtchending da. Er zahlt."
Sam schluckte einen Kommentar hinunter und packte die Waren ein, während Jacques seinen Freund rüffelte. Sie hörte nicht richtig hin.
"Da du mich ja eh zum Bezahlen bestimmt hast, kannst du ja auch schonmal vor gehen."
Jacques schob den Türkishaarigen energisch zur Tür hinaus, bevor er wieder zu ihr zurückkehrte.
"Tut mir leid, er ist dumm."
Sie lachte nur, gab ihm die Tüte und nahm das Geld entgegen.
Er drehte sich schon zum Gehen, da sagte sie leise:"Warte."
Er wandte sich wieder zu ihr um.
"Ich wollte dich fragen, ob du mir vielleicht deine Nummer geben würdest."
Er grinste sie an.
"Klar. Hast du mal nen Stift?"
Sie gab ihm Stift und Zettel, und er kritzelte ein paar Zahlen auf das Papier. Er drückte ihr den Zettel in die Hand und schien noch etwas sagen zu wollen, doch da stand sein türkishaariger Freund in der Tür.
"Schaffst du's?"
"Leander, bezahlen kann ich gerade noch so alleine. Tschüss!"
Das letzte Wort und das dazugehörige Lächeln waren noch einmal an die Frau hinter der Theke gerichtet, bevor er hinter Leander her lief. Sam musste sich ein Grinsen verkneifen, als sie auf den Zettel blickte.
Ruf mich an ;)
,stand in einer leicht geschwungenen, schwer leserlichen Handschrift unter der Nummer.
Sie ließ die Nummer in ihrer Schürzentasche verschwinden, das Lächeln blieb jedoch.Nach der Arbeit nahm sie all ihren Mut zusammen und rief ihn an.
"Ascorbin?"
Ihr Herz setzte einen kleine Schlag aus. Er hatte abgenommen. Das war doch ein gutes Omen.
"Salut, hier ist Sam. Aus der Bäckerei-"
"Ah, Salut! Wie geht's?"
Sie glaubte zu hören, dass er lächelte. Zumindest hoffte sie es.
"Gut, und dir?"
Ohne dass sie es bemerkte, drehte sie sich eine Haarsträhne um den Finger. Sie fühlte sich plötzlich wie ein Teenager, der zum ersten Mal verliebt war. Gut, im Grunde war sie das - zum ersten Mal verliebt. In über 200 Jahren.
"Auch gut."
"Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du Lust hast, dich mal mit mir zu treffen..."
"Klar, Moment -"
Einen Moment Stille. Dann hörte sie im Hintergrund ein "Broccoli, ich verschieb euch!"
Broccoli? Um Himmels Willen. Sie lachte leise. Ob das sein türkishaariger Freund war?
Ein Rascheln aus dem Hörer verriet, dass Jacques wieder dran war."Also, ich hätte heute Abend Zeit."
Heute Abend schon! Sie öffnete den Kleiderschrank mit einem Fuß, nur um festzustellen, dass sich darin kaum etwas befand.
"Cool. Wo würdest du vorschlagen?"
"Äh... Unterhalb deiner Wohnung geht's doch zum Seine-Ufer. Wie wär's damit?"
"Gute Idee. Dann... Um sieben?"
"Ja, passt. Bis dann!"
"Bis dann!"
Sie stand nervös vor dem Spiegel. Sie sah relativ normal aus, kein Vergleich zum Abend ihres Kennenlernens, als sie sehr aufreizend herum gelaufen war. Sie wollte, dass er sie kennenlernte. Dass er in ihr nicht nur den Sex sah.
Wieder einmal hatte sie ihren Vater vor Augen."Beruhige dich, Kind. Es wird nichts besser, wenn du dich aufregst."
Er hatte damit immer Recht gehabt. Als Kind hatte ihre Aufregung meistens mit irgendwelchen Verletzungen geendet, beim ersten Magietraining hätte sie fast das gesamte Gebäude abgefackelt, den ersten Freund erdrückte sie fast mit ihrer Art. - Gut, bei dem hätte es sowieso nicht lange gehalten. Es war nur eine Entdeckungsreise. Aber trotzdem hatte sie ihn vergrault. Und das durfte mit Jacques auf keinen Fall passieren.
Um zwanzig vor sieben hielt sie es nicht mehr aus und ging los. Natürlich war sie viel zu früh da, sie hatte ja nur ein paar Meter bis zum vereinbarten Treffpunkt. Aber in der Wohnung wäre ihr die Decke auf den Kopf gefallen.Sie lehnte sich auf das Geländer am Rande des Flusses und dachte an Helsinki zurück. Dort hatte es ihr gefallen, inmitten von Wasser. Sie hatte sich dort einen Job auf einenm Touristenboot besorgt, um so viel wie möglich auf dem Wasser zu sein. Ob das hier vielleicht auch ginge?
Vögel flogen über das Wasser, ein paar einsame Enten schwammen herum, ein kleines Ruderboot fuhr vorbei. Im Hintergrund begann die Sonne langsam unterzugehen, als Sam seine Schritte hörte.
Eine Tüte Pommes in der Hand, noch kauend, schritt er auf sie zu, ein warmes Lächeln im Gesicht, das allerdings nicht ganz reichte, die Nervosität zu verstecken, ebenso wenig wie seine gestrafften Schultern. Als er bei ihr ankam, strahlten sie sich einen Moment an."Salut, Sam."
"Salut."
Sie trat auf ihn zu und umarmte ihn. Mit der freien Hand erwiderte er die Umarmung herzlich. Vergessen war ihre Nervosität, sie fühlte sich pudelwohl. Obwohl er noch so jung war, ein halber Teenager noch, wusste sie, dass sie nie wieder ohne ihn könnte. Das war ihr zwar auch nicht ganz recht, aber sie würde damit leben können - und müssen.
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La Femme de Rubis
FantasyDie Frau der Rubine. Eine Übernatürliche, eine Großmacht, die auf ihre Kräfte verzichtet, um auf der Erde ihre wahre Liebe zu finden, ihr Gegenstück, mit dem sie den Rest ihres so ziemlich unsterblichen Lebens verbringen kann. Niemand, nicht einmal...