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2010

Sam schlug die Augen auf und blickte in ein schlafendes Gesicht. Verwirrt setzte sie sich auf und versuchte, sich an den Vorabend zu erinnern. Sie war in einer Bar gewesen, die den Namen Vapeur Bleue trug. Sie wusste nicht, warum sich der Name so in ihr Hirn gebrannt hatte, aber vielleicht war es die Tatsache, dass der Name so überaus passend war: Schon vor dem Gebäude standen Gestalten, die mit Zigaretten und ähnlichem überall bläulichen Rauch verteilten.
Ihr Partner öffnete müde seine Augen, und Sam wusste plötzlich, was passiert war.

Er war es.

Sie hatte über neun Jahre damit zugebracht, auf der halben Erde nach ihrem Gegenstück zu suchen. Sie hatte in New York, Sydney, Moskau, Helsinki, Berlin, Tokio und Madrid gelebt, bevor sie vor zwei Monaten nach Paris gezogen war. Sie hatte alles gegeben und nichts bekommen. Im Gegenteil. In Berlin wurde sie ausgeraubt, hatte nichts mehr außer der Kleidung an ihrem Leib und ihrem Pass. Sie musste sich ihr Geld mit dem zweitniedrigsten Beruf verdienen, den sie sich vorstellen konnte: Zehn Monate strippte sie in einem Nachtclub, zehn Monate musste sie jeden Abend die gierigen Augen fremder Männer auf ihren weiblichen Kurven ertragen, und nicht selten grapschte einer von ihnen nach ihr, wenn der Chef gerade nicht hinsah. Immerhin war sie nicht ganz so tief gesunken wie manche Kollegin, die nach Feierabend noch mit einem dieser lüsternen Männer mitging, um sich ein Trinkgeld zu verdienen, aber wohl fühlte sie sich auch ganz und gar nicht.
Nachdem sie von einem reichen jungen Mann auf einer Privatparty gebucht worden war, hatte sie genug Geld auf der Hand, um den Umzug nach Paris, den sie schon länger geplant hatte, zu bezahlen. Ohne sich zu verabschieden verließ sie Berlin, reiste im Schlafwagen nach Paris, klopfte dort an die Tür eines Cafés und fragte nach einem Job. Und das Schicksal schien es diesmal gut mit ihr zu meinen, sie wurde prompt genommen. Sie musste viel arbeiten, um die kleine Bude zu bezahlen, in die sie sich einmieten konnte, aber sie schaffte es. Und jetzt, jetzt war es das Ganze dreimal wert, denn er lag hier vor ihr: Jacques, ihr Gegenstück.
Sie erinnerte sich, wie sie ihren Vater gefragt hatte, wie sie ihr Gegenstück erkennen würde. Die Worte, die er geantwortet hatte, wusste sie noch ganz genau.
"Du wirst es sehen, sobald du ihm in die Augen schaust. Du siehst es, hörst es, riechst es, schmeckst es, aber am deutlichsten spürst du es.
Ich kann es dir nicht erklären, aber du wirst es wissen."
Damals war sie mit dieser Aussage nicht zufrieden gewesen, aber jetzt verstand sie, was ihr Vater meinte. Sie hatte es gewusst, hatte es gespürt, als sie ihn gestern Abend in der vernebelten kleinen Bar das erste Mal gesehen hatte, aber sie hätte nicht sagen können, was an dem jungen Mann so besonders war. Besonders war er, zumindest aus Menschenaugen, sogar sehr. Schon allein die dunkellila gefärbten Haare machten ihn zu einem Blickfang auf der Straße, aber das auffälligste an ihm waren wohl die Ohren: Groß, aufrecht stehend wie Hundeohren, das eine spitz, das andere abgerundet - nur dass neunzig Prozent der Menschen die Ohren überhaupt nicht sehen konnten. Das war eine Art Schutzfunktion der Übernatürlichen, sie selbst hätte das ganze so ähnlich auch gekonnt, hätte sie ihre Kräfte und damit ihr verändertes Aussehen gehabt. Aber das einzige, was ihr hier auf der Erde noch blieb war andere Übernatürliche als solche erkennen zu können - so wie eben Jacques- und ihre roten Augen, auf die sie oft angesprochen wurde.
Sam betrachtete den jungen Mann vor sich, der gähnte und "Morgen" brummte. Er sah sie an, mit den graublauen Augen, die ihr so deutlich verrieten, dass er zu ihr gehörte, obwohl es die Augenfarbe unter den Menschen millionenfach gab, und streckte eine Hand aus, um ihr eine Strähne der seidigen schwarzen Haare aus dem Gesicht zu streichen. Die Berührung löste ein wahres Feuerwerk der Emotionen in Sam aus, für das sie sich sogleich schämte. Obwohl sie wusste, dass sie dafür bestimmt war, ihn zu lieben, war es ihr unangenehm, dass sie nach dieser einen Nacht schon so für ihn brannte. Und jetzt grinste er sie auch noch schief an.

"Darf ich?"

Bevor Sam wusste, wie ihr geschah, hatte er sie auch schon an sich gezogen und schlief wieder ein. Sie schmiegte sich an ihn, und beschloss, dass es sich verdammt gut anfühlte, mit ihm so hier zu liegen. Sie entspannte sich etwas und nickte ebenfalls ein.
Als sie eine Stunde später wieder aufwachte, hatte sie keine Lust, sich noch einmal umzudrehen, und rappelte sich auf, darauf achtend, Jacques nicht zu wecken. Sie betrachtete das Zimmer, die überall verteilten Kleidungsstücke, und für einen Moment beschlich sie Angst. Sie war für ihn vermutlich nicht mehr als das hier, nicht mehr als ein One-Night-Stand. Doch schnell machte die Angst in ihrem Gesicht Platz für etwas anderes: Entschlossenheit. Wenn es so war, musste sie es ändern. Dann drehte sie sich um und verschwand im Bad. Der Duschstrahl war angenehm kühl auf ihrem von der Nacht mit getrocknetem Schweiß bedecktem Körper.
Sie brauchte nicht lange, trat aus der Dusche und trocknete sich ab. Nur mit dem Handtuch bekleidet trat sie aus der Badtüre, und verfluchte mal wieder die geringe Höhe der Tür, als sie sich unter dem Türrahmen hindurch ducken musste. Als sie aufsah erkannte sie, dass Jacques wach war und sie einen Moment lang ungläubig ansah. Er erhob sich, schlüpfte schnell in seine Unterhose und Jeans und kam zu ihr. Sie musste unwillkürlich lachen: Er war einen guten Kopf kleiner als sie und sah mit einem halb verlegenen Grinsen zu ihr herauf.

"Chérie, hast du eine Kaffeemaschine?"

Mit einem Nicken führte sie ihn in die kleine Küche und wies auf die altertümliche Filterkaffeemaschine. Bevor sie es tun konnte, machte der junge Mann sich bereits daran zu schaffen.

"Für dich auch einen?"

"Ja, bitte."

Sie war etwas perplex. In ihren eigenen vier Wänden bedient zu werden war auch etwas Neues für sie. Also setzte sie sich hin und wartete ab.

La Femme de RubisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt