Einsamer Schattengeist.

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Die Schatten schlichen über die Wände, unbemerkt. Unentdeckt.

Die urteilenden Augen der Menschen lagen auf mir, ihre anklagende Finger deuteten auf mich. Auf ihren Lippen lag der Fluch, der dunkle Zauber, der mich zurück in die Rolle eines einsames Kindes versetzte, das sich nachts im Angstschweiß gebadet unter ihrer Bettdecke verhüllte. Ihr weinender Schatten sah niemand hinter dem Schleier der Finsternis. Die Menschen sahen ihn nicht. Die Menschen sahen das einsame Mädchen nicht. Sie blickten solange über mich hinweg, bis ich selbst zum Schatten wurde.

Meine damaligen Mitschüler tragen die Schuld an meiner Existenz als Schattengeist. Sie redeten über mich, doch verschwiegen zeitgleich meine Anwesenheit. Ihre Reaktion blieb aus, wann immer ich ein Wort sprach. Es fühlte sich an, als würde ich inmitten einer Schar tauber Leuten schreien. Meine Mitschüler würdigten mich keines einzigen Blickes. Sie behandelten mich wie ein Geist, der zu seiner Lebenszeit dazu verdammt war, die Schadenfreude seiner teuflischen Klassenkameraden zu stillen. Die boshafte Schaulustigkeit, wie ein Mensch erbärmlich zu Grunde geht und noch nach seinem Tod von niemandem ernstgenommen wird.

Irgendwann verschmolz ich mit ihren Schatten. Wurde zu einer Kreatur mit einer gesichtslosen Maske, hinter der sich die starren Höhlen, die einst die fröhlichen Augen eines Kindes waren, und die zugenähten Lippen eines einst endlos redenden Mundes, verbargen.

Ich trage die Maske noch heute. Nach wie vor bin ich das stumme Schattenmädchen.

Dieses Mal habe ich mich dieser Rolle hingegeben, mich in ihre Arme fallen lassen. Meine Mitschüler der achten Klasse haben mich als Mensch akzeptiert. Existieren tue ich dennoch nicht.

In der unergründbaren Endlichkeit des Universums bin ich ein Sternchen, das nicht glitzert. Im weiten Horizont bin ich eine Wolke, die für den Regen verteufelt wird, der sie auslöscht. Mit den fallenden Tränen hört sie auf zu existieren.

Unter all den Menschen bin ich nichts. Und es belastet mich nur deswegen so sehr, weil die Gier in mir nicht ruhen will. Meine gierigen Klauen umklammern es; das verzweifelte Dursten nach Glück.

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Dr. Z mustert mich interessiert, wie sein Forschungsobjekt. Wie eine Laborratte, die unter Versuchen und Quälereien leidet. Doch wir reden nur.

Er fragt und ich antworte brav. Er löffelt mich aus, wie ein leckeres Dessert, einen Gaumenschmaus, womit er seine Neugierde stillt. Selbst die letzten Reste kratzt er aus der Glasschale, bis nichts mehr zu holen ist. Zu blöd, dass Zucker eine Droge ist.

„Diese Monster sind deine Sünden, wie du sagtest. Allerdings sehe ich darin keine Fehler, Lucette. Es sind deine Sorgen und Problematiken, die es zu überwältigen gilt."

„Natürlich sind es Sünden", entgegne ich mit unwillkürlichem Nachdruck. Meine Fingernägel schleifen geräuschvoll über meine Jeans. „Sie färben mein Herz schwarz und bemalen meine Beziehungen mit Blut. Sünden machen Menschen zu schlechten. Und ich bin definitiv ein grausamer Mensch – solch ein grausamer Mensch."

„Woher rühren diese Gedanken? Und weshalb willst du dir deine Sünden so sehr verdeutlichen, indem du sie mit viel Fantasie zu Monstern machst?"

„Sie würden das doch niemals verstehen."

„Es ist mein Beruf, dich zu verstehen. Lucette." Seine Stimme ist bohrend, grabend wie die Schaufeln der Totengräber, die rein als Höflichkeit mir manchmal auf dem Friedhof der Träume Gesellschaft leisten – eine stumme Gesellschaft. Eingehüllt in ihren schwarzen Umhang stehen sie schweigend da. Ihre Ausstrahlung scheint bedrohlich und an ihr haftet der Gestank vom Tode. Nichtsdestotrotz empfinde ich ihnen gegenüber keine Furcht.

Dem Ausdruck in Dr. Z' Augen entnehme ich, dass er eine Erwiderung erwartet. Meine Lippen bleiben versiegelt. 

Nimmer Nimmerland - Ort der verlorenen GedankenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt