Kuss des Todes.

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Oh, wie grausig Tage wie diese sind. Sie sind grau und kalt, sie sind aus den dunkelsten Ecken meiner Gedankenwelt gekrochen gekommen und überfallen mich wie eine Gruppe Banditen. Ich fühle das kalte Metall des Pistolenlaufes an der Schläfe. Die spotteten Gesichter betätigen den Abzug nicht, sondern quälen mich stundenlang mit der erdrückenden Furcht vor dem Tod. Sterben wäre so viel leichter, wenn es schnell ginge. Wenn es weniger kompliziert und nicht ausgemalt wäre. Möglicherweise fürchte ich mich alleine deswegen vor dem Tod, weil ich zu viele Gedanken daran verschwende. Ich werde ohnehin niemals über eine Antwort stolpern. Dem bin ich mir bewusst, aber an Tagen diesen sind meine Gedanken der Weltuntergang. Nicht die zerstörerischen Menschen in meinem Umfeld.

An Tagen wie diesen ist der Tod das penetranteste in meinem Kopf. Es zermürbt mir mein Gehirn, schlürft es genüsslich wie Spagetti in seinen trockenen Mund, in seinen vor Hunger schreienden Magen, der die Nahrung ungewohnt und mit einem unzufriedenen Grummeln empfängt.

An besagten Tagen besteht mein Alltag aus Denken. Ich liege wie betäubt da, wie eine ausgetrocknete Leiche – so unlebendig – und bilde mir ein, Unreelles über meine weiße Zimmerwand huschen zu sehen.

Denn die Monster haben mich wie eine Geisteskranke ans Bett gefesselt. Sie haben mich in den Kerker meiner Angst geschmissen, die steinerne Treppe hinunter in die kaltnasse Finsternis.

Ich versinke im Gefühl des Versagens, ertrinke in meiner Schuld, ersticke an meiner Nichtexistenz, verbrenne in den Flammen meines Schmerzes – alles zugleich. Und doch, fühle ich diese erschreckende Leere. Ebendiese fülle ich mich realitätsfernen Träumereien, stopfe diesen tiefen Brunnenschacht mit Gedanken, die ich niemals aussprechen werde. Die Spinnen in meinem Kopf weben ihre Netze darin, erschaffen das wundervolle Nimmerland, das zeitgleich grausig schwarz ist.

Im Geheimen tanze ich wie Aschenputtel mit einer auferstandenen Leiche auf einem Geisterball. Wir stolpern über die rissige Steinplatte, der Zombie und ich. Er war einst einer meiner vergangenen Träume. Ich tanze um zu vergessen, wovor ich fliehe. Im Schutz eines roten Umhangs begegnete ich einem Wolf, einem blutrünstigen Monster. Es lauert da draußen in den Wäldern. Ich bin seine Beute.

Ich bin Alice, die dem falschen verdorbenen Kaninchen ins falsche Wunderland folgte. Es stellte sich letztlich als Nimmerland heraus, aus dem Peter Pan und Tinkerbell längst herausgewachsen waren. Selbst wenn sie überall ihre Spuren hinterließen, denen ich folgte – jegliche Suche war vergeblich. Sie waren nicht unsterblich. Sie waren nicht besonders, sie waren nur Träumer.

So ist all dies auch mein Traum. Denn am ähnlichsten bin ich Dornröschen, gefangen im quälenden Alpdruck. Sie wartet auf den erlösenden Kuss des Todes.

-

Meine Fingerkuppeln streichen über die unebene Oberfläche eines alten Grabsteines. Zaghaft tastet mein Blick die Einritzung darin ab, erfühlt ihn, als sei er eine Blindenschrift.

Meine Lippen pressen sich zu einem schmalen Strich zusammen. Das leidliche Gefühl des Verlustes schmilzt mir ein Brandmal ins Fleisch meines Herzens. Es glüht schmerzlich.

„Ruhe in Frieden", ringe ich mir in einem leisen Wimmern ab, während meine Finger sich betend ineinander verschlingen. Bedauernd senke ich den Kopf auf die feuchte Erde nieder. Sie scheint so schäbig an diesem hässlichen Ort.

Hier wurde er begraben. In einem leeren Sarg im Nimmerland, einer unbedeutenden Welt in meinem düsteren Oberstübchen.

„Wie erbärmlich." Ein tragisches Seufzen kommt über meine Lippen. „Kein kaltblütiger Mörder bedauert seine Tat. Ich fühle mich schuldig, so grausam schuldig. Doch die belastenden Worte auf meiner Seele, wollen meinem Gefühlswirrwarr nicht entfliehen. Sie haben sich dort eingenistet, wie die Spinnen in meinem Kopf. Ich scheine ein lebendiges Vogelnest zu sein." Ein reuevolles Lächeln zuckt über mein Gesicht.

„Gerne würde ich mich bei dir entschuldigen, jedoch würdest du davon nicht wieder lebendig werden. Deswegen lasse ich es auf einem schlichten ‚Lebe wohl' beruhen. Ich vermisse dich wirklich." Dampfwölkchen umspielen meine Worte verschmitzt und steigen gen grauen Himmel empor. Ich sehe ihnen nach, aufgrund der Furcht, die Aufschrift des Grabsteines noch einmal ertragen zu müssen.

T R A U M

D E R A N G S T E N T F L I E H E N

2011 – 2015

Nimmer Nimmerland - Ort der verlorenen GedankenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt