Buch: Vergessene Kinder (Luna Darko)

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Auf visueller Ebene ist Vergessene Kinder von Luna Darko zweifelsohne eines der schönsten Bücher, die ich jemals gesehen habe. Doch leider ist dessen Inhalt noch lange nicht so ansprechend wie das Cover.

Die Handlung: „Pias Entschluss steht fest: In der Nacht vor ihrem 18. Geburtstag wird sie ihrem besten Freund Momo folgen und sich umbringen. Man kann ja doch nur die Farbe der Scheiße ändern, in der man sitzt.

Doch dann lernt sie Tom kennen, der so ganz anders ist als alle anderen, die sich bloß an Oberflächlichkeiten festklammern; und sie fangen an zu reden - über das Leben, übers Sterben, über ihre verloren gegangenen Träume. Und zum ersten Mal überhaupt hat Pia das Gefühl, sich nicht verstellen zu müssen, einfach sie selbst sein zu können.

Aber wer ist sie überhaupt? Hat sie sich nicht schon lange verloren hinter ihrer undurchdringlichen Fassade?"

So weit, so dramatisch. Ich möchte mich noch nicht an der Kurzbeschreibung festklammern und sagen, dass diese wie eine pseudodeepe Fanfiction klingt, die von einer Jugendlichen geschrieben wurde (lustigerweise hat Luna Darko dieses Buch verfasst, als sie sechzehn war und es als Erwachsene überarbeitet). Ich möchte erst einmal näher auf den Inhalt eingehen, deshalb lasst es uns öffnen!

Zuallererst werden wir also mit der handschriftlichen Notiz von der Protagonistin Pia begrüßt, die uns davor warnt, dass wir uns von nun an in ihrem Kopf befinden. Darunter die Randnotiz, dass das Ozonloch in Chile so groß ist, dass Schafe dort erblinden.

Wir sind also vorgewarnt und begeben uns in die Geschichte hinein - die erste Szene: Ein Gespräch zwischen Pia und ihrem Freund Lukas, in welchem sie sich vergewissern möchte, ob er ihr treu ist, der jedoch nur ausweichend auf die Frage antwortet. Daraufhin erkennt Pia, dass sie anscheinend zu gut für ihn ist, jedoch auch nicht ohne ihn leben kann. Tränen fließen und mit den Worten „Ich spüre seine Hand auf meiner Schulter und ein weiterer Stich trifft mein Herz - bitte mach doch, dass es aufhört, wehzutun!" komplettiert Luna Darko Pias Hin- und Hergerissenheit, die darin endet, dass sie trotz allem an Lukas' Seite bleibt und die bereits zerstörte Beziehung irgendwie versucht, aufrechtzuerhalten.

Doch es dauert gar nicht lange, bis Tom auftaucht, der Helfer in der Not, der Ritter in schimmernder Rüstung - so wie ich ihn beschreiben würde, denn die Handlung entwickelt sich so, dass Pia vollkommen verwahrlost nur noch unterschwellig darauf wartet, von ihm aus ihrem dunklen Tumblr-Loch errettet zu werden.

Tom ist der ältere Bruder von Finn, jedoch ist er im Gegensatz zu ihm eine ruhige, in sich gekehrte Person, die dem Alkoholkonsum auf den Parties, die in gefühlt jedem Kapitel stattfinden, nichts abgewinnen kann. Er liebt es, sich den ganzen Tag mit seinem Weed im Zimmer zu verkriechen und Songs zu schreiben, zu zeichnen - vom Charakter her ist er fast wie Pia, nur mit weniger suizidalem Drama-Getue.

Sein extrovertierter Bruder Finn hingegen fungiert in der Geschichte nur als Schäferhund, denn er treibt sein Lämmchen Tom immer wieder auf die verhassten Parties, wo er auf Pia trifft, die sich ständig dort aufhält, um ihre Depressionen mit Alkohol zu betäuben. Ohne Finn als Schlüsselcharakter würden Pia und Tom also niemals mehr als einmal aufeinander treffen, denn Tom muss seine deepe, nachdenkliche Persönlichkeit auf jeden Fall damit verdeutlichen, dass er jegliche Veranstaltung, die sozialen Kontakt erfordert, zutiefst verabscheut.
Finn ist also gut für das Pushen von Tom und Pias Beziehung, für eine kleine Hilfestellung hier und da und, ganz wichtig: Für das Heranschaffen neuer Drogen.

Wenn ich mir meinen Bleistift mit jedem Mal, wenn irgendwelche Drogen konsumiert werden, um das Bewusstsein so sehr zu erweitern, dass deepe Gespräche zustande kommen können, ein wenig fester gegen die Stirn drücken müsste, dann hätten wir jetzt Gehirn am Spieß zum Abendessen. Denn neben Weed, Alkohol und Zigaretten schlucken die Brüder auch gern mal eine Ecstasy-Pille, um darüber reden zu können, wie absurd das „perfekte Leben", das von der Gesellschaft immerzu in den Himmel gehoben wird, ist. Dabei gelangt Tom zur spektakulääären Erkenntnis, dass Beziehungen zu anderen Menschen im Kern nur daraus entstehen, dass man nicht allein sein möchte - einen Oskar für diese bahnbrechenden Worte.

Nein, ehrlich. Während des Lesens hat es mich durchgehend genervt, dass ehrliche, tiefgründige Gespräche fast nur unter der Vorraussetzung stattfinden, dass man mindestens einen Joint geraucht oder eine Pille geschluckt hat. Gegen den Drogenkonsum an sich habe ich überhaupt nichts, doch ich finde es mehr als bedenklich, dass die Charaktere ständig neues Zeug brauchen, um ihre Masken abzusetzen und ein ehrliches Gespräch zu beginnen - dabei kommen nicht einmal so aussagekräftige Sätze herum, meistens die übliche Standard-Kritik am Schulsystem und der verblendeten Gesellschaft, die ihre Augen vor allem verschließt.

Trotz der Standardsätze finde ich die Aussagen an sich sogar gut und richtig, aber dass sie nur durch exzessiven Drogenkonsum getätigt werden, hat es mir ziemlich verdorben.
Als viel interessanter sehe ich jedoch die handverfassten Tagebucheinträge von Pia, die uns einen genauen Einblick in ihren Kopf ermöglichen. Dort erzählt sie von ihrem bisherigen Leben und kritisiert Missstände auf einer viel höheren Ebene, als es ihr je gelingen könnte, wenn sie mal wieder mit Tom und Finn bekifft in der Ecke liegt.

Doch an dieser Stelle trieft das Buch auch mal wieder vor dem Special-Snowflake-Getue von Pia und den pseudodepressiven Sprüchen von ihr, die ich überall auf Tumblr finden kann, wenn ich will („Wo sind deine roten Lippen, Schneewitchen? Glänzt du lieber mit blutigen Armen?" oder „Ich bin schon vor langer Zeit gestorben").

Ja, wir wissen, dass Pia depressiv ist. Ja, wir wissen ebenfalls, dass sie eine tiefschwarze Seele hat und komplett zerstört ist. Nein, wir sind nicht dumm.

Das Ironische dabei ist, dass dem Leser zwar immer wieder unter die Nase gerieben wird, wie kalt, traurig und unnahbar Pia ist, aber ihr eigentliches Ziel, der Selbstmord an ihrem 18. Geburtstag, mit kaum einem Wort erwähnt wird und gegen Ende des Buches komplett im Sande verläuft. Im Allgemeinen scheint es so, als hätte sich kein Charakter wirklich entwickelt - Pia ist immer noch eine Special Snowflake, nur etwas weniger dramatisch, weil sie ja jetzt zwei Freunde hat - Tom, der sich noch immer am liebsten verkriechen will und Finn, dessen Charakter ich als einzigen wirklich interessant finde, der jedoch in der Geschichte nicht mehr und nicht weniger als ein Mittel zum Zweck ist - nämlich um Tom und Pia zusammen zu bringen und die Handlung voranzutreiben, indem er immer neue Drogen heranschafft.

An dieser Stelle formulieren wir also auch schon das Kernproblem: Da ist kein roter Faden. Luna Darko hatte zwar einen solchen in ihrer Kurzbeschreibung formuliert, doch die Frage, ob Pia sich nun umbringt oder nicht und warum genau wird nicht wirklich beantwortet - zwischen dem Drogenkonsum scheint dies irgendwie verloren gegangen zu sein. So wissen wir am Ende nur, dass sie (noch) lebt, doch das Buch fühlt sich dennoch nicht an wie ein richtiges Buch, denn eine richtige Konklusion gibt es nicht. Ich hatte zwar ein offenes Ende erwartet, doch so offen nun auch wieder nicht. Die Handlung ist zwar sehr klischeehaft, aber hätte im Gegenzug genug Potenzial geboten, um die Story doch noch zu etwas Besonderem zu machen. Jedoch wurde an vielen Stellen eine tiefgründigere, bessere Ausarbeitung lieber durch pseudodepressive Tumblr-Sprüche ersetzt, was ich sehr schade finde.

Und ja, ich bin mir darüber im Klaren, dass Luna Darko eine sehr bekannte YouTuberin ist, ich verfolge sie sogar selbst und stimme mit einer Menge von dem, was sie sagt, überein. Viele ihre Fans sind aber selbst erst dreizehn und daher recht unkritisch gegenüber ihrem Buch, das erklärt auch die überwiegend positiven Bewertungen auf Amazon und Co. Ich kann Vergessene Kinder jedoch nur als eher unterdurchschnittliches Buch, das besser aussieht als es ist, in Erinnerung behalten.

Daher dürfte das Werk mit insgesamt 30 von 100 Dämonenkühen gut bedient sein.

Haut rein.

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