63 - Nimy

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NIMY

Am liebsten würde ich Phil eine reinhauen und ihn anbrüllen, dass er wirklich ein Idiot ist. Nur um ihm dann im nächsten Moment mit einer gewaltigen Knuddelumarmung die Luft abzuschnüren und ihn nie wieder loszulassen, damit er sich nicht ein weiteres Mal in sich selbst und seinem Kummer verliert. Aber ich stehe nur stumm da, fühle mich wie ein Betrachter meines eigenen Lebens, während Dex, Clem und Phil neben mir weiter herumblödeln, als hätte nicht die letzten drei Monate Stillschweigen zwischen ihnen geherrscht.

Ich spüre, wie die Wut wieder in mir hochkocht, und dieses Mal kann ich mich nicht zurückhalten. Wie alle so tun, als wäre nichts gewesen, als wäre es ganz normal, Witze mit Phil zu reißen - ja, wie alle so tun, als hätte er noch sein verdammtes linkes Bein und wäre ganz der alte, treibt mich zur Weißglut. „Wenn wir hier schon alle beisammen stehen, können Clem und Dex dir ja mal erzählen, was sie in letzter Zeit so Schönes zusammen gemacht haben. Karten auf den Tisch, Freunde."

Das Gespräch der drei stoppt abrupt und sie alle starren mich an, als wären mir soeben Hörner gewachsen. Wer weiß, vielleicht ist das sogar der Fall, denn ich kann mich nicht erinnern, jemals so wütend gewesen zu sein.

„Sag mal, Nimy, geht's dir gut?", fragt Clem mich nach einer endlos langen Minute des Schweigens vorsichtig. „Du siehst aus, als würde dir gleich Rauch aus den Ohren kommen."

Obwohl ich weiß, dass Clem keineswegs beabsichtigt, mich mit dieser Aussage aufzuregen – ganz im Gegenteil, das ist ihre Art, mir zu sagen, ich solle mich mal wieder beruhigen – führt dieser Satz dazu, dass ich mich wirklich in einen feuerspeienden Drachen verwandle.

„Nein, mir geht es nicht gut. Uns allen geht es nicht gut, aber ihr überspielt es lieber mit euren verkackten Späßen, statt der Tatsache ins Gesicht zu blicken, dass wir eine völlig vermurkste Truppe sind!"

Die letzten Wörter schreie ich meinen Freunden geradezu entgegen und selbst Clem, die bekanntlich nichts leicht aus der Bahn wirft, sieht aus, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen. Als hätte ich ihr ins Gesicht geschlagen. Aber ich kann nicht aufhören, nicht jetzt, wo ich das Fass endlich geöffnet habe. Es ist, als hätte ich einen Damm in meinem Inneren eingerissen und nun sprudelt alles Ungesagte der letzten Wochen und Monate nur so aus mir heraus.

„Seit Phils Unfall laufen wir doch alle wie auf rohen Eiern durch die Gegend. Keiner traut sich, irgendetwas zu sagen, das etwas mit zwei funktionierenden Beinen zu tun hat. Geschweige denn dass irgendjemand Phil einmal genauer dazu gefragt hat, was bei seinem Unfall passiert ist. Weil wir alle zu viel Schiss davor hatten, dass er sich vor uns zurückzieht, wenn wir ihn bedrängen, und was hat es gebracht?" Clem sieht aus, als würde sie etwas erwidern wollen, aber ich lasse sie nicht zu Wort kommen.

„Gar nichts hat es gebracht, rein gar nichts. Er hat sich trotzdem zurückgezogen und wir haben getan, als würden wir es nicht merken. Als würden wir nicht merken, dass ihm ein Bein fehlt, als würden wir nicht merken, dass jetzt alles anders ist." Meine Wut flammt ab, aber ich bin noch nicht fertig. Ich wende mich an Phil und blicke ihm direkt ins Gesicht, als ich fortfahre. „Und weißt du, warum wir so getan haben? Wegen dir! Weil du nicht akzeptieren wolltest, dass du selbst jetzt anders bist. Dass dein ganzes Leben nie mehr so sein wird wie zuvor und klar, darüber darfst du ruhig heulen und jammern und allem die Schuld geben, aber du darfst nicht vergessen, dass du immer noch Freunde hast, die für dich da sein wollen, verdammte Kacke nochmal!"

Während meiner Abschlusstirade laufen mir die Tränen über die Wangen, aber ich wische sie nicht weg. Es ist mir egal, dass ich aussehe wie eine verheulte, hysterische Furie. Die ganzen Gefühle, die sich seit Phils Unfall in mir aufgestaut haben, sind nun wie ein Hurricane durch die Gegend gefegt und haben eine zerstörte Landschaft hinterlassen. Dex sieht mich an, als hätte ich ihm soeben einen Dolch ins Herz gerammt, Phil blickt wie ein übergossener Pudel drein und Clem, ja. Clem beweist mal wieder ihre Kompetenz im Krisenmanagement, überwindet den Abstand zwischen uns und nimmt mich in den Arm.

„Ich habe dich in meinem ganzen Leben noch nie fluchen hören und jetzt heute gleich so oft auf einmal", murmelt sie an meinem Ohr und umarmt mich noch ein wenig fester. „Wieso hast du mir denn nie gesagt, dass es dir wegen Phil so schlecht geht?"

Ich zucke nur schniefend die Schultern und rotze dabei Clems Schulter voll. Trotzdem lässt sie mich nicht los, bis ich mich wieder beruhigt habe und auf eigenen Beinen stehen kann, ohne umzukippen. Der Adrenalinrausch ist so schlagartig aus meinem Körper gewichen, wie er gekommen ist, und mit einem Mal fühle ich mich nur noch leer und traurig. Und entsetzt, als mir schließlich vollends bewusst wird, was ich eben alles von mir gegeben habe. Habe ich Phil wirklich vorgeworfen, er habe nicht akzeptieren wollen, dass er ein Bein weniger hat? Dass er deswegen eine Heulsuse wurde? Oh Gott, was bin ich nur für ein Unmensch!

„Phil, es tut mir so leid, ich hab' das nicht so gemeint", beeile ich mich zu sagen und winde mich aus Clems Armen. Da Phils Rollstuhl nur wenige Schritte links von mir steht, bin ich schneller bei ihm, als die anderen gucken können, und werfe mich auf ihn drauf. Bei meiner Größe ist es kein Problem, auf seinen Schoß zu passen, aber es ist sehr wohl ein Problem, wenn man zu viel Schwung drauf hat, der Freund im Rollstuhl nicht daran gedacht hat, die Bremse anzuziehen, und ihm ein Bein fehlt, mit dem er die Wucht abfedern könnte. So rollen wir gemeinsam einige Meter rückwärts, ich schreie wie am Spieß, während Phil mich mit seinem rechten Arm so festhält, dass es wehtut, und er mit dem linken versucht, sich irgendwo an der Wand festzuhalten, damit wir nicht die gesamte Jugendherberge in Schutt und Asche legen.

Wir kommen so plötzlich zum Stehen, - irgendjemand hat den Rollstuhl an den Griffen gepackt - dass es mich fast von Phils Schoß auf den Boden geschmissen hätte, wenn er mich nicht so fest umklammert halten würde. „Wie immer dein Retter in der Not", lächelt er mich zaghaft an, als wisse er nicht so recht, wo wir nach meinem Wutanfall stünden. 

Dieses vorsichtige, unsichere Lächeln ist es, das mir das Herz bricht und mir zeigt, dass Phil durchaus weiß, wie anders sein Leben geworden ist, wie anders er selbst geworden ist. Und es gibt nichts, das ich sagen könnte, das ihm seinen Schmerz nimmt, also schlinge ich einfach nur fest meine Arme um seinen Hals und ziehe ihn in eine Knuddelumarmung, bis er keine Luft mehr bekommt.

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Würdet ihr Phil vorwerfen, dass er sich so zurückgezogen hat?
War es berechtigt von ihm - oder absolut unfair seinen Freunden gegenüber?

Habt ein schönes Wochenende! :)

- liljaxxx & knownastheunknown -

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