37 - Maya

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MAYA

„Er hat ein riesiges Drama daraus gemacht und alle anderen Leute in der Aula angeschrien", zischt Angie mir leise zu.

Wie es aussieht hatte Phil vorhin einen kleinen Ausraster. Kein Wunder. Mir würde es auch nicht gefallen, von allen so angestarrt zu werden. Ich ignoriere Angie, verdränge die Gedanken an Phil und widme mich wie der Rest der Klasse wieder dem Konjugieren der Spanischvokabeln.

„Wie weit bist du denn schon?", fragt Angie und lehnt sich weiter zu mir rüber, damit sie abschreiben kann.

„Vermutlich gleich dreimal so weit wie du, wenn du weiterhin so viel plapperst", murmele ich kopfschüttelnd, aber nicht böse. So ist Angie eben. Manchmal ist das ziemlich anstrengend, aber sie ist trotzdem eine meiner besten Freundinnen.

Mr. Linclane sieht von den Heften am Tisch vor sich auf und unsere Blicke treffen sich, als er aufsteht. Er ist sechsundzwanzig und sieht mit seinen dunklen, lockigen Haaren ziemlich süß aus – weswegen Angie vor ausnahmslos jeder Stunde von ihm schwärmt. Manchmal glaube ich, dass sie sich absichtlich nicht bemüht, gute Noten in Spanisch zu bekommen, damit er ihr jeden zweiten Donnerstag auch noch zusätzlich Nachhilfe gibt.

„Ist Mayas Heft wirklich so viel spannender als deines, Angie?" Plötzlich steht er vor uns und ich merke wie meine Freundin dahinschmilzt. Sie antwortet nicht, sondern starrt ihn mit großen Augen an – hat sie ihn überhaupt gehört? – und Mr. Linclane schüttelt schmunzelnd den Kopf. „Trata de concentrarte. Du kannst das selbst, davon bin ich überzeugt."

Dann geht er wieder zurück nach vorne zur Tafel und die restlichen zehn Minuten schafft Angie es nicht, auch nur ein weiteres Wort in ihr Heft zu kritzeln. Ich gebe meine Arbeit recht zufrieden ab, Mr. Linclane lächelt mir zu und ich verlasse die Klasse, nur um schon wieder von Angies Redeschwall überrollt zu werden.

„Denkst du, er hat eine Freundin? Denkst du, er würde mit einer siebzehn-Jährigen ausgehen? Glaubst du, wenn ich mit der Schule fertig bin-"

„Stopp", unterbreche ich sie und lache. „Du bist verrückt, Angie."

Gespielt genervt verschränkt sie die Arme vor der Brust und verdreht die Augen. „Schon klar. Nur du darfst deinen Märchenprinzen haben und alle anderen müssen solo bleiben."

„Was? Darum geht es doch gar nicht." Ich runzle die Stirn und bin etwas verwirrt, weil ihre Stimme auf einmal doch ernster klingt als erwartet.

„Weißt du, wie sehr es mir manchmal auf die Nerven geht, dir und Noah bei eurem kitschigen Pärchenalltag zuzusehen? Das ist, als würde dir jemand ins Gesicht drücken, dass du alt und einsam sterben wirst. Oder so."

„Und deswegen sabberst du Mr. Linclane hinterher?"

„Wem soll ich denn sonst hinterhersabbern?", fragt sie aufgebracht und deutet mit ihren Armen um uns. „Alle Jungs an dieser Schule sind Idioten. Oder in einer Beziehung."

„Was ist mit Ethan?" Auf einer von Dex' Partys letztes Jahr hatten die beiden was miteinander, aber irgendwie ist das so schnell verraucht, dass ich gar nicht mehr weiß, warum eigentlich.

Angie sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an. „Dein Ernst? Du weißt doch, dass er sich nachher nicht mehr bei mir gemeldet hat und jetzt so tut als würde er mich nicht kennen!" Ihre Stimme wird leiser und sie blickt verlegen an mir vorbei. Wahrscheinlich macht ihr das alles immer noch mehr zu schaffen, als ihr lieb ist. „Und dass er kurz vor Weihnachten mit Clementine rumgemacht hat."

Hoppla. Wer hat diese Info denn aus meinem Kopf geklaut?

„Scheiße. Tut mir leid." Ich will schnell das Thema wechseln, bloß weg davon und vertuschen, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann, obwohl Angie es mir hundertprozentig gesagt hat. Das Problem ist, dass sie so viel von sich gibt, dass man sich unmöglich alles merken kann. Aber dieses kleine Detail wäre wohl doch wichtig gewesen. „Hm... was war eigentlich mit Phil?", versuche ich es dann vorsichtig.

Angie bleibt stehen. Wir sind vor meiner Klasse für Literatur angekommen, aber sie muss weiter in Psychologie. „Phil ist... sicher nett. Aber, naja, das will ich mir ehrlich gesagt nicht antun."

Diese Worte fressen sich durch meine Zellen wie ein Virus und verseuchen alles, was sie finden können. Ich fühle mich fast wie betäubt, als ich mich fragen höre: „Wie meinst du das?"

„Komm schon, Maya. Es ist sicher nicht so... so einfach mit ihm. Und ich will nicht an jemanden gekettet sein, der mich auch irgendwie einschränkt."

„Er kann doch nichts dafür!", gebe ich empört von mir, aber ich fühle kaum irgendetwas, das man in Worte fassen könnte. Da ist nur auf einmal dieser Kloß in meinem Hals.

„Das sag' ich ja auch nicht. Aber... Ach, vergiss es. Ich sollte gehen, sonst komm' ich zu spät", murmelt sie ausgesprochen ruhig und schüttelt den Kopf.

Bevor ich meine Beine in Bewegung setzen kann, ist Angie schon über die Stufen nach oben verschwunden. Das, was sie gesagt hat, sickert immer noch nicht richtig zu mir durch. Wie kann sie nur so denken?

Aber ich weiß irgendwo in einer dunklen Ecke meines Kopfes, dass ich in Wahrheit eine elende Heuchlerin bin. Könnte ich mich in jemanden verlieben, der im Rollstuhl sitzt? Wie schafft man es, über diese Schlucht hinwegzusehen und die Person dahinter zu erkennen? Ich habe kaum einen Gedanken daran verschwendet, wie es Phil wohl geht, denn seit er seine unbekümmerte, vorlaute Art abgelegt hat, bekommt man kaum mit, dass er noch da ist. Irgendwie hat er es geschafft, sich in Luft aufzulösen und es war mir absolut egal.

Ich betrete die Klasse und blicke direkt in Noahs blaue Augen hinter seiner Brille. Sie geben mir etwas Halt, auch wenn ich Angst habe, gleichzeitig von ihnen durchschaut zu werden. Die Stunde hat eigentlich vor zwei Minuten begonnen, weshalb auch Palma, Eleanor, Clem und Ace bereits hier sind. Sie wirken alle nicht unbedingt so, als würden sie sich auf die Stunde freuen. Clem lümmelt am Tisch und hat die Augen geschlossen, Eleanor und Palma flüstern leise vor sich hin und Ace ist ohnehin mehr ein Schatten als ein Mensch. Er spiegelt die Stimmung in dem Raum perfekt wieder: beinahe leblos sitzt er da, seine Kamera am Tisch vor sich liegend und den Blick konzentriert auf den Boden gerichtet. Dass Phil fehlt, ist allerdings plötzlich auffälliger als alles andere in diesem Raum. Wo steckst du?

Endlich schaffe ich es, mich auch an meinen Platz zu setzen. Ich zwinge mich, nicht daran zu denken, wie komisch die Situation mit Clem noch ist oder mir erneut Vorwürfe wegen Noahs Großvater zu machen. Trotzdem ist mir so schlecht, dass ich mir nicht vorstellen kann, jemals wieder etwas essen zu können - was alles noch schlimmer macht. Hätte ich nur damals meine verdammten Augen aufgemacht. Ich hätte doch merken müssen, wie schlecht es Noah gegangen ist, als sein Opa starb. Aber ich hatte ja andere Sorgen. Dämliche, unnötige Sorgen, die ihm alles andere als geholfen haben.

„Hey", sagt Noah lächelnd und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Ich spüre es kaum. „Wie war Spanisch?"

„Ganz gut", erwidere ich und zwinge mich, ein fröhlicheres Gesicht aufzusetzen.

Kaum eine Sekunde später kommt Miss O'Hara herein und begrüßt uns, bevor sie verwundert fragt: „Kommen die anderen etwa nicht mehr? Ich hätte schwören können, dass ich zumindest Dex vorhin noch gesehen habe."

„Phil hat sich nicht gut gefühlt. Die anderen sind bei ihm", erklärt Palma rasch und wenig überzeugend, als würde mehr dahinter stecken, aber Miss O'Hara nickt bloß mit nachdenklicher Miene. Eleanor, die neben Palma sitzt, greift nach ihrer Hand, wie um ihr Trost zu spenden.

Ich merke, dass ich innerlich zusammenschrumpfe. Wieso fühle ich mich plötzlich auch noch so verantwortlich für Phil?

„Ist alles in Ordnung?"

Ich zucke vor Schreck zusammen und sehe in Noahs Richtung. Dann schenke ich ihm ein breites Lächeln. „Sicher." Doch da ist es wieder, ich höre das Wort in meinem Kopf nachhallen. 

Heuchlerin.

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Hass gegen Angie ist verständlich, aber wie steht ihr zu Mayas Haltung? Glaubt ihr, ihr könntet mit jemandem zusammenkommen, der im Rollstuhl sitzt, ohne groß davon beeinflusst zu werden? 

- liljaxxx & knownastheunknown -

PS: Ich befehle euch hiermit liljaxxx 's instagram Account namens SONNENBLUMENLIEBEE zu folgen.

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