kapitel 4

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Eden


Spannung erfüllt die Luft um uns herum und der Druck auf meiner Brust wird fast unerträglich. Ich beiße fest die Zähne zusammen und blinzle heftig, bemühe mich darum, nicht die Kontrolle zu verlieren. Es vergehen Sekunden, vielleicht Minuten, bevor ich es schaffe, die Hand leicht zu heben und ein gepresstes „Hi!" auszustoßen. Dabei bin ich mir dem intensiven Blick aus Kadens Augen überbewusst – die Blicke von Mum und Dave sind mir gerade völlig egal, aber Kadens Blick ist nicht leicht zu ignorieren. Und ich habe mich getäuscht ,seine Augen sind nicht einfach grün. Sie sind grün und blau und haben goldene Sprenkel, die im Sonnenlicht, das durch die großen Fenster fällt, zu leuchten scheinen. Etwas blitzt in den Tiefen auf und ich meine etwas wie Neugier darin zu erkennen.

Amliebsten wäre ich jetzt weggerannt, so schnell und weit, wie möglich. Und ich hasse mich dafür. Dafür, dass ich so schwach und gebrochen bin. Dass ich zugelassen habe, dass mich jemand so sehr verletzt hat, dass ich bei dem bloßen Anblick eines Jungen an Flucht denke. Mum ist definitiv stärker als ich.

Kaden sieht mich noch einen Moment lang an, dann neigt er leicht den Kopf und mustert mich auf eine Art und Weise, als würde er ergründen wollen, was mit mir nicht stimmt. Ich könnte ihm da eine ganze Liste zusammenstellen, aber spätestens nach ein paar Tagen in unserem Haus wird er begreifen, wie verkorkst seine neue Schwester wirklich ist. Ich kann mich noch so sehr bemühen, normal zu erscheinen. Aber über die Albträume habe ich keine Kontrolle. Und wenn sie mich heimsuchen, bin ich nicht immer leise.

Schließlich zuckt ein Muskel in seinem Kiefer. „Hi", erwidert er dann und ich erschrecke beim Klang seiner tiefen Stimme. Sie ist wohlklingend und barsch zugleich, ebenso wie sein Gesicht eine interessante Mischung aus scharfen Konturen und weichen Linien ist.

Allerdings sagt gutes Aussehen nichts über den Charakter eines Menschen aus –er kann ihn entweder unterstreichen oder Lügen straffen und ich bin niemand, der andere leicht an sich heran lässt.

Eigentlich lasse ich überhaupt niemanden an mich heran. Und ehrlich gesagt,will ich das auch so bei behalten.

Dave räuspert sich hörbar und ich senke den Blick auf die Spitzen meiner schwarzen Chucks, die ich mit verschiedenen Lyrics und den Logos meiner Lieblingsbands bekritzelt habe.

„Also ,ich denke, wir sollten dann langsam los fahren." Daves Stimme klingt gezwungen heiter. Ich wage einen Blick in Kadens Gesicht, dass jetzt wieder hart und wie aus Stein gemeißelt wirkt, seine Augen haben jede Regung verloren.

Ganz klar, er ist mit seiner jetzigen Situation alles andere als glücklich und ich kann ihn nur zu gut verstehen. Ein Stich fährt in meine Brust und Mitgefühl mischt sich unter die Angst, die er in mir ausgelöst hat. Aber ich kann nichts gegen die Furcht machen. Alles an ihm – sein Blick, sein Auftreten, sogar die hitzige Energie, die ihm aus jeder Pore zu kriechen scheint – das alles weckt in mir den Fluchtinstinkt.

Er ertappt mich dabei, wie ich ihn ansehe und schnell schaue ich weg. Als ich Dave sagen höre, dass wir doch alle am besten jetzt zurück zum Auto gehen sollten, bin ich die erste, die den anderen den Rücken zukehrt und davon marschiert.

Dabei kann ich seinen stechenden Blick auf mir spüren – er fühlt sich glühend heiß an, als würde er sich direkt durch Stoff und Haut brennen, bis in mein Innerstes.





Die Fahrt ist die reine Folter. Weder ich noch Mum bringen den Mut auf, etwas zu sagen. Wir haben uns beide nach hinten gequetscht, damit Kaden den Platz neben seinem Vater auf dem Beifahrersitz einnehmen kann. Das scheint ihn aber kein bisschen zu erfreuen. Andererseits scheint es kaum etwas zu geben, das das vermag.

Er hat erst vor Kurzem seine Mum verloren, also kein Wunder!

Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn meine Mutter plötzlich nicht mehr am Leben wäre. Sie ist der einzige Lichtstrahl in einer Welt aus Kälte und Finsternis. Wenn ich sie verlieren würde– ich glaube nicht, dass ich das ertragen könnte.

„Und, also", begnnt Dave unsicher. „Wie war dein Flug?" Es ist ein magerer Versuch, ein Gespräch ins Rollen zu bringen.

Kadens Stimmung hebt sich dadurch kein Bisschen. „Ich bin hier, also ist das Flugzeug offenbar nicht abgestürzt", lautet seine ruppige Antwort. Die ganze Zeit über behält er den Blick aus dem Seitenfenster gerichtet. Ich sitze auf der Rückbank direkt hinter ihm und obwohl ich mich dazu zwinge, auf die Landschaft zu starren, die an uns vorbeizieht, kann ich nicht anders, als immer wieder in den Seitenspiegel zu schauen, um Kadens Gesicht zu betrachten.

Zu meinem Leidwesen erwischt er mich dabei und ich sehe sofort weg.

Dave unternimmt noch ein paar Versuche, um das Eis zwischenihm und Kaden aufzubrechen, aber ich könnte ihm wohl gleich sagen, dass das erstmal nichts wird. Kaden braucht Zeit – und es kann Tage, Wochen oder gar Monate dauern, bevor zwischen ihnen – zwischen uns allen– so etwas wie Normalität entsteht.

Klar,du bist ja auch Expertin, was Normalität angeht, nicht wahr? Ich muss der sarkastischen Stimme in mir recht geben – ich bin alles andere als normal. Ich bin zu verkorkst, als dass ich jemals normal sein könnte. Damit habe ich mich abgefunden. Es ist wirklich okay. Solange ich nicht pausenlos das fröhlich, unschuldige naive Mädchen mimen muss, um die anderen glücklich zu machen. Das habe ich früher getan. Aber mittlerweile fehlt mir die Energie dafür.

Ohne mein Zutun gleitet mein Blick zurück zum Rückspiegel – nur um Kadens Augen zu begegnen, die mich anstarren. Ich schlucke. Ich will wieder wegsehen, aber diesmal weigere ich mich.

Ich werde mit Kaden klar kommen. Das muss ich. Nicht um meinetwillen, oder um seinetwillen. Schon gar nicht um Daves wegen.

Aber für meine Mutter. Nur für meine Mutter.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 07, 2018 ⏰

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