Ich klickte mich durch und fand schließlich die offizielle Seite der Klinik. Sie entpuppte sich als eine psychische Anstalt für Menschen die zur Gewalt neigen. Lia hatte etwas von einem Irrenhaus gesagt, aber nicht dass sie zur Gewalt neigte geschweige denn, dass sie Suizid beging. Auf einmal wurde ich wieder unendlich traurig. Ich hatte mich so auf dieses Bild konzentriert, dass ich nicht mehr an sie gedacht hatte. Ich wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel und suchte nach der Adresse. Als meine Mutter nach Hause kam. Ich schrieb mir die Adresse auf einen Zettel und hefte diesen an meine Pinnwand.
»Warum bist du denn schon zu Hause?«
Es klang Sorge in ihrer Stimme mit.
»Ich, Ich… Lia…«
Ich brach in Tränen aus. Meine Mutter sah verdutzt aus, aber anstatt nach zu fragen, nahm sie mich in den Arm und streichelte meinen Kopf.
»Sie ist tot«
Hatte ich irgendwann irgendwie in ihre Schulter genuschelt. Ich sah, dass sie was sagen wollte, aber wusste anscheinend nicht was, weswegen sie Stil blieb und mich einfach nur Sorgenvoll anschaute. Ich wischte mir die Tränen vom Gesicht. Ließ sie los und schaute sie an.
»Ich komm schon klar«
Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen um mich machte. Da fiel mir ein, dass im Wohnzimmer noch das Bild liegen musste. Ich ging schnell zum Tisch uns nahm es, bevor sie es sehen konnte. Mit dem Bild in der Hand, rann ich die Treppen hoch und während ich in mein Zimmer sprintete, hörte ich meine Mutter mir noch hinterher rufen
»Geht es dir wirklich gut? Ich glaube wir sollten re….«
Aber ihre letzten Worte hörte ich schon gar nicht mehr. Ich schloss die Tür und setzte mich auf mein Bett und sank müde nieder. Meine Augen fielen zu und das Bild aus der Hand.
Ich schreckte hoch, mein Handy hatte mich geweckt. Noch im Halbschlaf schaute ich auf das Display, um zu sehen, was den Ton verursacht hatte, der mich geweckte hatte. Es war Theo, der mir geschrieben hatte.
>Wie geht es dir?<
Ich überlegte, ob ich ihm schreiben sollte, was los war und reinen Tisch zu machen. Ich vertraute ihm, also warum nicht? Aber eine kleine Stimme in meinen Kopf lud mir davon ab und anstatt ihm mein Herz aus zu schütten, schrieb ich
>Mir geht es… naja den Umständen entsprechend<
Ich schickte die Nachricht ab und in dem Moment als sie ankam, ging er wieder online, so als ob er nur gewartet hatte, dass ich ihm schreibe. Dies erfüllte mich, trotz der Situation, mit einem warmen und wohligen Gefühl in der Magengegend. Er schrieb nicht direkt zurück, was wohl hieße, dass er seine Worte mit bedacht wählte. Er brauchte exakt 27 Sekunden weswegen es mich enttäuschte, als nur ein „ok“ zurück kam. Aber was erwartete ich eigentlich? Dass er Lia wieder lebendig machen kann? Und er hat sie schließlich ebenfalls verloren. Generell alle haben sie verloren, Theo, Zoey, nicht nur ich. Also schrieb ich
>Ist denn bei dir alles Ok?<
>naja ich denke ich steh noch unter Schock. Hast du mit Zoey gesprochen? Sie ist ziemlich fertig aus der Klasse gerannt, direkt nach dir<
Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Lia war auch Zoey‘s Freundin, kein Wunder, dass sie sich so schräg verhalten hat.
>Ich muss los ciao<
Ich schaute auf die Uhr: 12:11 Uhr.
Es ist schon seltsam, wie Zeit gleichzeitig schnell und doch unglaublich langsam vergehen kann.
Seit heute morgen ist schon übermenschlich viel passiert, trotzdem ist diese Ungewissheit quälend und fühlt sich unendlich an.
Ich überlegte was ich jetzt tun sollte und setzte mich auf mein Sofa. Ich ließ meinen Kopf in meine Hände sinken und strich mir durch die Haare. Ich verweilte 37 Sekunden und blickte wieder auf, als mein Blick auf meine Pinnwand fiel.
Da viel mir ein, dass ich mir noch die Adresse aufgeschrieben hatte von der Klinik. Ich überlege nicht länger, schlich nach draußen, schnappte mir mein Fahrrad und fuhr hin.
Ich hatte nur 15 Minuten gebraucht. Die Klinik war quasi um die Ecke, trotzdem war sie mir noch nie aufgefallen. Ein verkommenes, altes Backsteingebäude, an dem Efeuranken hochgewachsen waren. Vor der Tür lag ein Shotterweg, an dem rechts und links Bäume standen, an denen die Blätter, schon welkend, hinunterhingen. Ich stieg ab und schob das Fahrrad den Weg entlang. Neben der Tür standen schon leicht angerostete Fahrradständer, an die ich mein Fahrrad ankettete und ging hinein.
Drinnen war es anders, als ich es vermutet hatte, nachdem ich das Gebäude von außen gesehen hatte. Hell, weiß, viele Fliesen und so typische Lampen, wie man sie oft in Schulen, Zahnärzten oder anderen öffentlichen Gebäuden findet. Nur wenige Meter entfernt befand sich zentral die Rezeption. Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen, ging hin und betete, dass die Frau am Tresen nicht nachfragt.
»Hallo. Könnte ich bitte einen Besucherausweis bekommen?«
Die Frau zog eine Augenbraue hoch.
»Ich möchte eine Freundin besuchen«
Sagte ich deswegen schnell und ein wenig mit Panik. Sie zog auch noch die andere Augenbraue nach oben, aber gab mir wortlos einen Ausweis.
Er sah so aus, wie in den ganzen Arzt Filmen. Nur hatte er anstelle eines Bands eine silberne Sicherheitsnadel, die in dem grellen Licht aufblitze. Ich befestigte ihn am unteren Ende meines Shirts und ging den Schildern nach zum Treppenhaus.
Mir viel auf, dass es seltsam leer war.
Keine Besucher, keine Familien, keine Freunde nur ab und an Sicherheitsleute, was mir seltsam vorkam, denn wieso sollten Wachmänner rum laufen, wenn man einfach so ein Besucherausweis bekommt? Also irgendwie kommt mir dieser Ort seltsam vor, aber ich lasse mich nicht beirren und laufe weiter, bis ich im ersten Flur mit Zimmern angekommen war und dort wurde mir auch bewusst, dass ich gar nicht wusste, was ich eigentlich hier wollte. Ich schaute den Flur entlang, da viel mir auf, dass diese Arzt Zelte an der Seite der Tür an Klemmbrettern aufbewahrt wurden. Ich lief zur ersten Tür und schaute ihn mir genauer an. Es stand nichts drauf, außer der Name und Zeitpunkt des Einzuges. Ich beschloss nach Jessica‘s Zimmer zu suchen.
Ich ging den Gang entlang und zweifelte ob es eine gute Idee gewesen war hierher zu kommen. Je mehr Zettel ich durchlas desto mehr wuchsen gleichzeitig meine Neugier, Angst, Nervosität und Zweifel. Diese wurden verstärkt, dar sich an den Türen sowohl Zahlen- als auch manuelle Schlösser befanden. Ich begann die Sekunden mit zu zählen. Ich weiß nicht warum ich das tat, es begann schon als ich klein war, wenn ich besonders nervös war, zählte ich die Sekunden um an etwas anderes zu denken und meistens klappt das auch, aber nicht heute.
143 Sekunden später bei Zimmer 9 stand auf dem Zettel:
Jessica 28.4. 14 – 31.5.18
Mir viel sofort auf, dass auf ihrem Zettel auch ein 2. Datum stand, wahrscheinlich der Tag an dem sie sich das Leben genommen hatte. Bei diesem Gedanken bekam mich ein ungutes Gefühl. Wir hatten gerade mal den
2.6.18 also noch nicht einmal eine Woche her und keiner hatte uns etwas von ihrem Tod erzählt, immerhin war sie in unserer Klasse. Wieso sollte man das vor uns geheim halten? Es war fast so, als wäre der Zettel an der Tür der einzige Beweis, dass sie existierte.
Mir wurde noch unwohler.
Was würde nach meinem Tod übrig bleiben? Würde sich jemand an mich erinnern? Ich schüttelte den Gedanken so schnell ich konnte wieder ab und testet, ob die Tür verschlossen ist. Natürlich war sie es.
In der dritten Klasse hatte ich mir mal beibringen lassen, wie man mit einer Haarnadel ein Schloss knackt und das Schloss sah nicht so kompliziert aus, allerdings hatte ich weder eine Haarnadel noch ein eine Kreditkarte.
Ich blickte mich um. Niemand zu sehen.
In Filmen säße jetzt ein Wachmann auf einem Stuhl am Ende des Ganges, der sehr schläfrig wäre und ich müsste nur ein Schlaflied singen und dann hätte ich den Schlüssel, leider war das hier kein Film und außerdem gab es noch das Zahlenschloss und so war ich gezwungen, zu gehen, allerdings hatte ich vor nochmal vorbereiteter hier her zu kommen.
Auf dem Rückweg dachte ich an Zoey. Bevor ich losfuhr hatte ich ihr eine Nachricht geschrieben:
>Hey. Wie geht es dir? Als du da warst war ich noch so unter Schock, dass ich mich wie ein Arsch verhalten habe und nicht gefragt hab wie es dir eigentlich geht<
Ich hatte Angst, dass die Nachricht nicht genug war oder nicht aufrichtig klang. Ich nahm mein Handy aus meiner rechten Hosentasche und entsperrte es. Ich konnte fast nichts sehen, da die Sonne auf den Bildschirm schien und die Helligkeit nicht ganz aufgedreht war, da es heute morgen noch nach Regen und der Himmel ziemlich dunkel aussah.
Trotzdem fanden meine Finger wie von selbst unseren Chat und die Helligkeit Anzeige. Sie hatte die Nachricht gelesen, aber keine Antwort.
Ich musste sie wirklich verletzt haben, ansonsten würde sie mir zurück schreiben. Kurzerhand beschloss ich bei ihr vorbei zu fahren.
Es war zu weit fürs Fahrrad also fuhr ich nach Hause, stellte mein Fahrrad in die Garage, suchte in meiner Tasche nach meiner Fahrkarte und lief zur Bushaltestelle, als ich sah, dass ich sie dabei hatte.
Wie üblich hatte der Bus Verspätung, was mir ausnahmsweise recht gelegen kam, denn so hatte ich länger Zeit mir zu überlegen, was ich Zoey überhaupt sagen wollte.
Die Fahrt dauerte 23 Minuten und 54 Sekunden.
Trotz den sogar noch 4 zuzüglichen Minuten fiel mir nichts ein und es blieb mir auch keine Zeit mehr da ihr Haus genau an der Haltestelle liegt. Sogar so nah, dass sie von ihren Zimmerfenstern die Leute ein und aussteigen sehen kann.
Früher saßen wir oft dort und beobachteten Leute die eben das taten und erfanden Hintergrund Geschichten, was sie wohl in ihrem Leben getan haben oder tun werden, damit sie genau um diese Zeit an dieser Bushaltestelle ein oder aus steigen. Ich fand es immer spannend und stellte mir vor, ob dass wohl auch andere machten, wenn ich irgendwo ausstieg, aber Zoey hat irgendwann beschlossen, dass wir zu alt dafür wären. Aber ich vermisste es. Allerdings hatte ich mich aber nie getraut ihr das zu sagen, dar immer Angst hatte, dass sie mich dann als kindisch oder langweilig bezeichnen würde.
Wehmütig schaute ich nach oben.
Ich konnte Zoey‘s Silhouette erkennen, aber sie verschwand sofort. Als ob sie sich von mir abwenden wollte. Das traf mich und ich ging bestürzt zur Klingel.
Ihre Klingel war so laut, dass man sie bis draußen sehr gut hören konnte, aber niemand machte mir auf. Ich klingelte noch einmal. Ebenfalls hörte ich die Klingel und ebenfalls machte mir keiner auf. Wollte Zoey mich nicht sehen? Eine Mischung aus Wut und Trauer flammte in mir auf, aber ich bemühte mich sie zu verdrängen. Warum wollte sie nicht mit mir reden? Sie gab mir nicht mal die Gelegenheit mich zu entschuldigen. Auf einmal brach die Wut in mir hervor.
Ich hatte mich bemüht mich zu entschuldigen und Sorgen gemacht, dass es nicht aufrichtig genug klang, aber sie hatte noch nicht einmal Interesse daran mir auch nur zuzuhören, geschweige denn mit mir darüber zu reden oder zu schreiben.
Ich kam mir plötzlich unglaublich dumm vor.
Ich ging in meinem Kopf meine gesamte Freundschaft mit ihr durch. War es nicht schon immer so gewesen? Hatte ich mich nicht immer entschuldigen müssen, selbst wenn sie was falsch machte? Hatte sie nicht immer nur über sich geredet? Wollte sie nicht immer das letzte Wort haben? Hatte sie sich überhaupt generell jemals für meine Meinung, mein Leben oder meine Gefühle interessiert?
Ich bekam eine ganz neue Sichtweise auf alle unsere gemeinsamen Erlebnisse und Erfahrungen.
Und die Sache mit dem Fenster war das beste Beispiel.
Ich spürte wie mir vor Wut Hitze in die Wangen stieg und meine Augen sich mit Tränen füllten, aber ich wollte nicht weinen, nicht um sie noch nicht mal vor Wut. Sie war keine einzige Träne wert.
Ich trat zwei Schritte nach hinten und schaute demonstrativ zu ihrem Fenster. Sie hatte inzwischen ihre halb durchlässigen Vorhänge einen Spalt geöffnet, wahrscheinlich im mich oben noch besser beobachten zu können und sich darüber lustig zu machen, wie ich da stand und von oben wahrscheinlich hilflos aussah, doch jetzt richtete ich meinen Wut entbrannten Blick genau dahin wo sie stehen musste und signalisierte mit einem scharfen funkeln im Auge, dass sie für mich gestorben ist.
Ich drehte mich auf dem Absatz um und rannte auf die andere Straße Seite in den Bus, der gerade hielt und er fuhr wieder mit mir davon.
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Sekunden
Teen FictionManche Sekunden dauern länger als andere. Jede Sekunde, in der man etwas tut, das man liebt, fliegt nur so dahin und manche Sekunden dauern, jede für sich, kleine Ewigkeiten. Ebenfalls kann man um eine Sekunde die Chance seines Lebens verpassen oder...