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Es begann in der Lernzeit. Dort war immer ein lautes Gewirr von Stimmen, die durcheinander reden, von Plänen für das Wochenende oder die Schule, zuhören . Alle 16 oder 17 Jahre alt und es ist trotzdem noch so wie in der 7. Klasse: Kurz vor Bio und jeder lernt, für einen eventuellen Test, den wir schreiben könnten. Wir hatten in einem kurzen Zeitraum jede Stunde einen geschrieben und deswegen ist jeder paranoid, dass wir heute noch einen Test schreiben könnten. Es ist immer so. Jedes mal. Normalerweise lerne ich auch, aber heute wollte ich nicht. Ich weigerte mich einfach. Der Lehrer tat immer so, als würden wir einen Test schreiben, aber schreiben dann doch keinen. Aber selbst wenn wir einen Test schreiben sollten, schreib ich einfach ab.
Da riss mich jemand plötzlich aus meinen Gedanken.
»Könntest du mir bitte einen Radiergummi geben?«
Es war Theo, der neben mir saß und schon die ganze Zeit irgendetwas in seinen Block malte, aber leider konnte ich nicht sehen was.
Er kritzelte ständig irgendetwas in seinen Block, aber nur selten konnte jemand einen Blick erhaschen, was er so kritzelte.
»Klar, warte kurz«
Ich ging zu meinem Platz an der hintersten Wand und nahm einen meiner Radiergummis aus meinem Mäppchen und versuchte, als ich zurück ging, einen Blick auf den Block zu werfen, vergebens. Dafür entdeckte ich das alte Klassen Foto aus der fünften an der vorderen Wand neben der Tafel und löste den letzten Klebebandstreifen, von dem das Bild schon fast abfiel und setzte mich wieder neben Theo, auf den von mir noch angewärmten Platz. Ich sah ihn lächelnd an und gab ihm den Radiergummi.
Dabei sagte ich mit einem Lachen in der Stimme.
»Schau mal das alte Klassenfoto«
Und legte es auf seinen Block. Theo hörte auf zu malen, fing an, mich an zu lächeln und belustigt zu grinsen.
»Wir sehen alle so lächerlich aus. Du hast echt so was von Glück, dass du nicht darauf abgebildet bist«
Ich stieg darauf ein und fing auch an, die jüngeren Versionen meiner Klassenkameraden, zu betrachten und mich über sie lustig zu machen. Zu gegeben, sie sahen alle echt lustig aus, aber nach kurzer Zeit blieb mein Blick bei dem jüngeren Theo hängen.
»Schau dir mal deine Haare an, die waren ja länger als meine Haare jetzt. Und da Lars, Annabelle, Sophia erst und da ist auch Lia, dass muss ich ihr zeigen. Wie jung ihr alle ausseht. Marco sieht aus wie 9«
Theo brach in lautes Gelächter aus.
»Er sieht aus wie 9, weil er 9 war. Und meine Haare waren nicht länger als deine jetzt. Sie waren Schulterlang, also ungefähr gleich, von der Länge her. Damals war das Angesagt! Schau doch mal, damals hatten alle solche Haare«
»Waren diese Klamotten auch angesagt?«
Zog ich ihn auf. Er lachte noch lauter.
Ich hörte ihn gerne lachen, aber er tat es leider selten. Ich betrachtete sein Gesicht und verglich es mit dem Foto. Inzwischen hat er sich die Haare abschneiden lassen, dadurch lockten sie sich und die dunkelbraune Farbe bildete einen schönen Kontrast zu seinen grünen Augen.
»Ähm, Mel. Melodie? Hallo?«
Er fing an vor meinen Augen mit seinen Händen zu wedeln und mit den Fingern zu schnipsen. Peinlich berührt wurde ich von ihm aus meiner Trance gerissen.
»Ähm, ja, was ist, Theodor?«
»Ich sagte gerade, dass ich gerne gewusst hätte wie du in der 5. Klasse aussahst, aber du warst gerade zu weggetreten, um mir zu antworten. An was hast du gedacht?«
»Ich hab mir gerade Vorgestellt... wie... ihr... damals alle noch so unschuldig ward und nicht für Bio lernen musstet«, stotterte ich zusammen und bemühte mich ihn nicht direkt anzusehen, »weißt du was, ich nehme das Bild mit nach Hause und hänge es mir als Trophäe an die Wand«
Ich versuchte geschickt davon abzulenken, dass ich mich gerade irgendwie in seinem Anblick verloren hatte, leider ist mir dieser klägliche Versuch offensichtlich missglückt.
Nach 7 Sekunden rettete mich zum Glück die Klingel. Ich legte mir noch einen Satz zurecht falls er nochmal nach fragen sollte, aber dies schien gar nicht nötig gewesen zu sein. Denn mit keinem Wort fragte er nach, sondern sah mich nur an. Er schien wohl den Bio Witz geschluckt zu haben.
Ich nahm meinen Radiergummi und das Bild, ging auf meinen Platz, räumte mein Zeug zusammen und legte das Bild zwischen meine Bücher, welche ich in meinem Ranzen stopfte. Dann nahm ich meine Beine in die Hand und flüchtete aus dem Raum, bevor er doch nachfragen könnte, was gerade los war und merkte, dass ich eine gewisse Schwäche für ihn hatte.
Der Biosaal sah ein bisschen, nein, eigentlich genauso aus, wie ein Raum in den amerikanischen College Filmen, vorne eine große Tafel und die Klappstühle, welche an Tischen befestigt waren, schräg nach oben hintereinander aufgereiht.
Meine Freundinnen und ich saßen auf der linken Seite des Ganges und Theo mit seinen Freunden auf der anderen. Wir schrieben keinen Test, wie ich es gedacht hatte. Mal wieder viel heiße Luft um nichts.
Der Unterricht zog sich in die Länge, wie Kaugummi und ich fing an Theo zu beobachten. Ob er wohl doch was gemerkt hatte?
Wenn ja, ließ er sich nichts anmerken. Er zeichnete wieder in seinen Block, aber ich hatte das Gefühl, als ob er immer mal wieder zu mir rüber schauen würde. Zu gerne hätte ich diesen Block mal in die Hände bekommen, aber leider war das gerade zu unmöglich.
Ich hätte ihn wahrscheinlich noch den ganzen Unterricht beobachten können, aber ich zwang mich wieder aufzupassen und schnell war der Unterricht wieder wie immer: Meine Freundinnen und ich machten uns mit den Jungs vor uns über den Unterricht lustig, hauptsächlich eigentlich über den Lehrer und kamen so ins Gespräch, naja wenn man das überhaupt Gespräch nennen kann. Ob Gespräch oder nicht, liebte ich diesen kurzen Zeitraum in Bio. Die lockere Atmosphäre, das Scherzen und vor allem kein Bio. Ich war zwar gut in Bio, aber in diesen kurzen Zeiträumen schien alles perfekt zu sein. So war es auch auf der Klassenfahrt gewesen, kein Zwang und niemand war verklemmt.
»So dann bis nächste Woche«
Der Lehrer riss mich abermals aus den Gedanken. Trotz der vorherigen Atmosphäre, war ich froh, dass die Schule zu Ende war.
Ich schnappte mir mein Zeug und ging. Auf dem Weg zum Bus fiel mir auf, dass ich heute in den letzten zwei Stunden schon dreimal aus den Gedanken gerissen wurde und gerissen ist genau das richtige Wort. Urplötzlich, ohne Vorwarnung, einfach aus dem Nichts. Leider verlor ich mich öfters in Gedanken und inzwischen schien das auch jeder zu wissen, was aber auch einen gewissen Vorteil haben konnte. Zum Beispiel kann ich so ziemlich jeden beobachten und die auserwählte Person denkt, dass ich nur Löcher in die Luft starre und überhaupt nichts mehr mitbekommen würde.
Ich holte meine Kopfhörer, welche ich in einer kleinen vorderen Tasche meines Rucksackes aufbewahrte. In dieser Tasche befand sich immer so viel Kram, dass ich langsam den Überblick verlor.
Aber falls ich mal was bestimmtes brauchte, konnte ich mich immer darauf verlassen, dass es sich in dieser Tasche befand. Die Kopfhörer ebenfalls, leider waren diese, wie immer, verknoten. Inzwischen an der Haltestelle angekommen, fing ich an sie zu entknoten. Da sah ich Lia.
Lia ist in meiner Klasse und wir fahren eigentlich immer zusammen Bus, normalerweise laufen wir auch zusammen zur Haltestelle, aber heute bin ich direkt losgegangen ohne zu warten. Das ist eigentlich überhaupt nicht meine Art. Aber heute wollte ich so schnell wie möglich weg. Irgendwie hatte ich schon den ganzen Tag so ein Gefühl, als ob noch was passieren würde, allerdings hatte ich keine Ahnung was. So ein Gefühl hatte ich manchmal und meistens stellt sie sich als richtig heraus und wenn es nur was kleines ist, wie ein Test zu schreiben. Trotzdem hätte ich warten sollen.
Ein bisschen mit Schuldgefühlen geplagt, ging ich auf sie zu.
»Hey«
Ich wickelte die Kopfhörer wieder auf und packte sie ein, mit dem Wissen, dass wenn ich sie später wieder auspacke, sie wieder verknoten sein werden.
Lia sah etwas verwundert aus, mich zu sehen. Bis auf dies wirkte sie eigentlich wie immer, aber ihre Stimme klang anders als sonst, ein bisschen kratzig und angeschlagen.
»Hey, du warst auf einmal weg. Ich dachte du hättest den frühen Bus noch bekommen. Aber das passt ganz gut, denn ich wollte dich noch fragen ob wir uns Freitag treffen könnten. Oh, da kommt schon der Bus!«
Mir fiel auf, dass sie auch anders sprach. Irgendwie abgehackt, gehetzt und ihre Stimme überschlug sich fast.
Wir stiegen ein und setzten uns hinten nebeneinander, auf die beiden Sitze, bei denen einer immer höher ist als der jeweils andere. Der höhere war mein Lieblings Platz und während wir uns hinsetzen, antwortete ich auf ihre Frage
»Gerne, ich hab Zeit. Ich muss aber nochmal nachfragen. Ich schreib dir später nochmal«
Nachdem ich dies gesagt hatte entstand eine angespannte Stille. Nach schon einer Haltestelle ertrug ich diese nicht mehr. Ich überlege schon fast krankhaft, womit ich die Stille brechen könnte, da fiel mir ein, dass ich das Bild in der Tasche hatte.
»Ach warte kurz, ich hatte vor dir noch was zu zeigen«‚ mit diesen Worten nahm ich das alte Foto zwischen den Büchern hervor und hielt es zu Lia, sodass sie es sehen konnte, »Schau mal, das hab ich heute gefunden. Es ist das alte Klassen Foto. Irgendwie hat der Anblick was von einer Zeitreise. Verstehst du was ich meine? Ihr seht da alle noch so jung aus und irgendwie... ich weiß auch nicht, aber ich hab einfach so 'nen Eindruck«
Ich sah sie erwartungsvoll an. Ich war gespannt, was sie darauf antworten würde. Ich warf noch ein Blick auf das Foto, als mir plötzlich dieses mal ein Mädchen auffiel, dass ich noch nie gesehen hatte.
»Hey, wer ist das?«
ich zeigte auf das Mädchen. Sie hatte dunkelbraune fast schwarze Haare mit einem roten Schimmer, an den Stellen wo das Licht drauf fiel, aber ihre Augen waren das, was mir sofort aufgefallen war. Sie waren schwarz. Pech schwarz. Nicht dunkelbraun. Nein. Wie zwei schwarze Löcher, so dass ich ein Gefühl hatte, als ob sie mich aus dem Foto heraus anstarren würden.
»Das ist Jessica, sie hat seit der 6. Klasse niemand mehr gesehen. Sie ist schon damals selten zur Schule gekommen und wenn sie mal da war, hatte sie mit niemand gesprochen«, Lia sah ziemlich eingeschüchtert aus und ihre Stimme zitterte ein wenig, »Gerüchten nach musste sie in eine psychische Klinik«
Anscheinend hatte das Mädchen, welches ich eben erst entdeckt hatte, genauso eine Wirkung auf Lia, die schon mehr oder weniger zwei Jahre mit ihr in einer Klasse gewesen war, wie auch auf mich. Ich musterte das Bild nochmal und bemühte mich von Jessica weg zu sehen. Aber es war so als hätten mich ihre Augen gefangen genommen und es gelang mir nicht. Nervös fuhr ich mit meinen Zeigefinger den Rand hoch und runter, bis ich mich Schnitt.
»Alles in Ordnung?«
Ich blickte Lia an und nickte mit dem Finger im Mund damit die Wunde aufhörte zu brennen und zu bluten. Danach ließ ich meinen Blick wieder aufs Bild wandern und achtete darauf nicht wieder in den zog zu geraten und betrachtete stattdessen meine Klassenkameraden bis ich die jüngere Lia entdeckte.
Sie trug ein hell gelbes Kleid, dass ihren Tand zum strahlen brachte. Allerdings verbog es nicht ihren damaligen Babyspeck, zum Glück war er jetzt nicht mehr sichtbar ansonsten waren ihre Haare und das Gesicht noch fast gleich aber die Augen wirkten anders. Sie wiesen einen roten Glanz auf. Es war kein typischer Kamerablitz roter Glanz. Es sah eher so aus, als hätte sie gleich weinen müssen und gerade als ich diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, lief ihr eine Träne über die Wange, eine rote Träne. Auf dem Foto. Auf dem Foto lief ihr eine rote Träne übers Gesicht und sie war nicht nur rot, sondern aus Blut.
Vor Schock rieb ich mir die Augen und schaute nochmal genauer hin.
Keine Träne und keine roten Augen. Ich war mir sicher, dass gerade noch eine Tränen über ihre Wange lief. Ich hatte eine Träne gesehen, aber das war unmöglich. Ich riss das Foto aus Lia's Hand und stopfte es wieder in meinen Rucksack. Dabei riss ich mir meinen Schnitt auf und mein Blut tropfte auf den Boden. Lia sah verwirrt aus.
»Ähm, ich muss aussteigen. Ciao«
Sagte ich und stürmte aus dem Bus, obwohl ich mir noch nicht mal sicher war, ob das meine Station gewesen ist. Ebenfalls war mir egal, dass ich auf Lia wie eine Verrückte wirken musste.
Ich wollte weg, einfach nur weg. Ich rannte. Ich rannte so schnell ich konnte. Ich war sicher, dass ich mir das nicht nur eingebildet hatte. Ich zog das Foto wieder aus meiner Tasche und zerriss es. Dabei vergrößerte sich meine Wunde.
Es tat höllisch weh und blutete heftiger.
Ich sah zu, wie mein Blut auf das Bild tropfte und meine Augen fühlten sich mit Tränen. Ich wollte es loswerden so schnell wie möglich. Leicht unbeholfen irrte ich blind vor Tränen durch die Straße, auf der Suche nach einem Mülleimer. Bis ich endgültig nichts mehr erkennen konnte. Ein Schleier aus Tränen verhinderte mir die Sicht. Alles war unscharf und ich stolperte, meine Haut riss auf. Leicht humpelnd rannte ich weiter und ließ das Foto einfach liegen, zerrissen und voll mit Blut geschmiert, an dem Dreck vom Sturz klebte. Ich rannte weiter, bis ich endlich zu Hause ankam.
Vor der Haustür stehend, suchte ich meinen Schlüssel, als ich ihn fand und die Tür aufschließen wollte, bemerkte ich, dass meine Hände zitterten. Ich schloss auf. Sobald ich im Haus war, schmiss ich meinen Rucksack in die Ecke und rannte in mein Zimmer. Drinnen fiel mir auf, dass anscheinend noch niemand zu Hause war. In meinem Zimmer angekommen, warf ich mich auf mein Bett und versuchte meine Tränen zu trocknen, aber als ich mich auf die Seite drehte bemerkte ich irgendetwas, auf das ich mich drauf gelegt haben musste. Ich hob den Rücken und zog es hervor.
Es war das Foto, noch ganz und ohne Dreck beschmiert.
Aber mir fiel auf, dass mein Blut noch dran klebte. Ich hatte es liegen gelassen. Ich war mir sicher, dass ich es auf dem Weg hatte liegen lassen, zerrissen und schmutzig. Ich hatte es zerrissen, ich war mir sicher. Ich wusste nicht was ich tun sollte. Mir stiegen vor Panik Tränen in die Augen. Ich nahm hektisch mein Handy und wollte eine Nummer wählen, aber ich wusste nicht welche. Wen sollte man in solch einer Situation anrufen?!
Eine Träne floss mir über die Wange. Schnell strich ich sie mir aus dem Gesicht, aber sie fühlte sich seltsam an : warm und irgendwie dickflüssig. Da schaute ich auf meinen Handrücken, es war Blut.
Ich schreckte hoch und rief Theo an, ohne nachgedacht zu haben.

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