Kapitel 2

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Nachdem ich viel zu lange beim Stromanbieter warten musste, komme ich kurz vor knapp im Café an. Meine Chefin tippt demonstrativ auf die Uhr.

»Entschuldigung, es wird nicht mehr vorkommen.«

»Das hoffe ich, April. Du weißt gar nicht, wie viele Menschen gerne hier arbeiten würden.«

»Ich weiß.«

Sie wartet auf ein Danke, aber da kann dieser Drachen lange drauf warten. Klar, hat sie mir diesen Job gegeben, aber ich bin eine verdammt gute Kellnerin, komme nie zu spät, gebe nie Grund zu klagen, da verdiene ich es nicht, dass man mich ermahnt, nur weil ich Punkt neun komme und nicht wie sonst, zehn Minuten zu früh. Pünktlich bin ich so immer noch.

Ich bringe meine Handtasche in unseren kleinen Lagerraum und binde mir meine lilane Schürze um, bevor ich mich wieder ins Café begebe und die Bestellungen in meinem Bereich aufnehme. Heute arbeite ich mit Helena, die bereits um sieben aufgemacht hat. Sie studiert an einem kleinen College in der Nähe, nicht am illustren Walters, aber es ist auch kein Community College, an dem ich im letzten Semester einen Kurs besucht habe. Bei meinen Arbeitszeiten ist es schwer, an mehreren teilzunehmen, aber ich will diese Zeit auch nicht vollkommen verschwenden.

Die Türglocke klingelt und eine Frau kommt herein, die sich an einen kleinen Tisch in meinem Bereich setzt. Ich gebe ihr eine Minute, in der ich den Tresen abwische, bevor ich zu ihr gehe, Block und Bleistift gespitzt.

»Guten Morgen. Was kann ich Ihnen an diesem schönen Tag Gutes tun?«

Sie schaut hoch, und ich erstarre. Das kann nicht sein. Sie sieht aus wie ich. Älter, aber das sind meine Augen, meine Nase und mein Mund, den ich da erkenne. Wir haben sogar die gleiche Haarfarbe, obwohl die ja auch falsch sein kann. Sie ist eine ältere Version von mir selbst. Ich habe ja schon gehört, dass es angeblich für jeden einen Doppelgänger auf dieser Erde gibt, aber geglaubt habe ich es bis heute nicht. Aber das bin eindeutig ich. Ganz eindeutig.

Die Frau schaut mich ebenfalls überrascht an, bevor ihr eine Art Erkennen über das Gesicht flackert. »Bist du Darlenes Tochter?«

Woher kennt diese Frau meine Mutter?

»Wer sind Sie?« Ich mustere sie. Sie ist elegant gekleidet, in einem schicken Kostüm mit Rock. Ihre Füße stecken in schicken Pumps, ihre Haare liegen in einem perfekten Bob und sie trägt eine Perlenkette. Ich wette meine heutigen Trinkgelder, dass sie echt ist.

»Ich bin Jolene Vanderlind.«

Vanderlind. Der Mädchenname meiner Mutter. »Sind Sie Darlenes Schwester?«

»Zwillingsschwester, ja. Hat sie nie von mir geredet?«

Ich schüttele den Kopf. Ich hatte nicht gewusst, dass Mom überhaupt Geschwister hat, geschweige denn eine Zwillingsschwester. »Nein, tut mir leid.«

»Nun ja ... Wie geht es ihr?«

»Sie ist vor drei Jahren gestorben.«

Betroffenheit zieht sich über ihr Gesicht. »Oh. Woran?«

»Brustkrebs.«

»Das tut mir leid.«

»Mir auch. Wohnen Sie hier?«

»Nein, wir wohnen in Boston.«

»Was machen Sie hier?«

Sie streicht sich durch das perfekte Haar, sieht ebenso unsicher aus, wie ich mich fühle. »Ich besuche meinen Sohn Steven, der am Walters studiert. Meine Tochter India wird ihm im nächsten Semester folgen.«

Ich bekämpfe den Anflug von Neid. »Ich habe Cousins?«

Sie lächelt. »Ja. Unsere Familie ist nicht groß, aber ein paar von uns haben überlebt.« Sie sagt es wie einen Scherz, aber ich finde es unpassend, weil Mom ganz offensichtlich eine von denjenigen ist, die nicht überlebt haben.

Jolene blickt sich um, bevor sie aufsteht. »Wie spät es schon ist. Ich muss gehen.«

»Warten Sie!«, rufe ich ihr hinterher, aber sie hört nicht. Ich eile ihr auf die Straße hinterher. »Mrs Vanderlind! Bitte, ich ...«

Sie bleibt endlich stehen, schaut mich an. »Es ist besser, wenn wir diesen Kontakt vergessen.«

»Aber wieso? Ich hab sonst keine Familie außer Dad.«

»Deine Mutter war das schwarze Schaf der Familie nicht ohne Grund.«

»Erzählen Sie mir von meiner Mom«, flehe ich beinahe.

Sie streicht sich das perfekt frisierte Haar aus dem Gesicht. »Ich weiß nicht, was das bringen soll. Es ist besser, wenn man die Geister begraben lässt.«

»Sind Sie denn gar nicht neugierig auf mich?«

Sie mustert mich von oben bis unten, und ich muss mich täuschen, aber ich meine so etwas, wie Abscheu in ihrem Blick zu sehen. »Ich weiß schon alles über dich. Du bist wie Darlene. Frei und frech und wild, nicht an Konventionen interessiert oder am guten Namen deiner Familie. Du bist ganz genau wie sie.« Sie spricht es nicht aus, aber ich höre den stummen Nachsatz. Eine Schande.

Als sie dieses Mal geht, folge ich ihr nicht. Stattdessen muss ich mit meinem Temperament kämpfen. Wie kann mir jemand solche Dinge vor den Latz knallen, der mich gar nicht kennt? Eine besonnene Stimme in mir sagt, dass ich nicht weiß, was sie gedacht hat, aber auf die höre ich nicht. Stattdessen steigere ich mich in meine Wut hinein, kann gar nicht anders, als innerliche Tiraden zu schwingen, gegen sie und ihre gesamte blöde Familie, die ich nie im Leben mögen werde, und wenn sie die einzigen Menschen auf der Welt sind, die mein Blut teilen.

Und doch ist da diese Faszination. Bis vor zehn Minuten dachte ich, dass ich nur Dad habe, dessen Eltern bereits gestorben sind. Aber jetzt habe ich eine Tante, Jolene, eine Cousine, India, und einen Cousin namens Steven. Wo vorher nur ein Familienmitglied war, sind jetzt mindestens vier. Und ich kann nicht umhin, mir über sie Gedanken zu machen. Ganz gegen meinen eigenen Willen.

Dear AprilWo Geschichten leben. Entdecke jetzt