Stille. Jeder in dem Raum war auf die gewaltige Wand fokussiert. Auf der linken Hälfte war sie weiß wie Schnee, auf der Rechten schwarz wie die Nacht. In der Mitte verlief, von oben nach unten, die gerade Trennlinie dieser wohl größten Gegensätze der Welt. Fast sollte man meinen, es wäre ein sauberer Schnitt. Aber nein! Jetzt wo man genauer hinsah, erkannte man, dass ein paar winzige schwarze Farbkleckse die weiße Seite verunreinigten. Zerstörten.
Julius legte seine Stirn in Falten. Was hatte das zu bedeuten? Er wusste genau, dass er sich vor einem Kunstwerk befand. Ein Kunstwerk, das ihm jedoch nicht sagte, warum es als solches benannt werden mochte. Und ein Kunstwerk, dessen Aura so magisch, so mächtig war, dass sich keiner der Menschen in diesem Raum traute zu atmen, aus Angst, diese Atmosphäre zu zerstören. Verwirrt und gleichzeitig beeindruckt wendete Julius sich ab, um in den nächsten Raum zu schlendern.
Ohne auch nur den Hauch oder einen kleinen Anflug von Zeitgefühl, trieb er nun schon eine gefühlte Ewigkeit durch das Amsterdamer "Museum für Abstrakte Kunst". Wie lange mochte er nun schon hier sein? Ein paar Stunden? Einen Tag lang? Oder ein ganzes Leben? Er wusste es nicht. Was er nun wusste war, dass die Zeit hier scheinbar ihr eigenes Ding zu machen schien. Völlig unbeirrt von dem, was da draußen, jenseits der Museumsmauern als "Sekunde" oder "Minute" bezeichnet wurde.
Der nächste Raum war vollständig in ein sattes, dunkles Rot gekleidet - und völlig leer. Bis auf einen Spiegel, der zentral an der Wand gegenüber der Tür hing. Langsam trat Julius davor. Als er den Kopf hob, sah er das Kunstwerk. Eine Person, ca. mitte zwanzig, mit dunklen Haaren, tiefen Geheimratsecken und vollem Bart. Mit ausdrucksloser Miene starrte sie ihm entgegen. Mit ebenso ausdrucksloser Miene starrte Julius zurück.
Und so starrten sie. Eine Weile. Bis sich ihre Mienen plötzlich mit Leben füllten, heiterer wurden. "Ich selbst bin das Kunstwerk", dachte sich Julius. "Und zu sehen ist nur ein kleiner Teil. In Wirklichkeit gibt es alles, was es hier in der Realität gibt, auch in der Welt des Spiegels. Nur sehen tut man eben nur das, was vom Spiegelglas reflektiert- und vom menschlichen Auge eingefangen wird. Doch de facto ist die Spiegel-Welt genauso unendlich, wie die echte Welt. Oder: Was, wenn die Seiten gar verkehrt sind?"
An dieser Stelle brachen seine Gedanken zunächst ab. Was jedoch langsam in ihm aufkeimte, war eine leise Ahnung über die wahre Bedeutung abstrakter Kunst. Leicht überfordert, diese Unendlichkeit in klaren Gedanken zu fassen, durchströmte ihn eine Welle totaler Euphorie, von der er sich in den nächsten Raum tragen ließ.
War hier schon das Ende der Ausstellung?
Auf den ersten Blick konnte Julius zumindest keine weitere Tür entdecken, die in einen nächsten Raum führen sollte. Auf einmal wurde ihm auch bewusst, dass weit und breit kein Mensch mehr zu sehen war, wo doch das Musseum drei Räume vorher noch regelrecht überfüllt gewesen war. Das einzuordnen fiel ihm zunächst schwer. Alles was dabei herauskam, war ein leicht mulmiges Gefühl in seiner Bauchregion. "Was ist das für ein Raum?", dachte er sich, als ihm auch noch bewusst wurde, welch merkwürdige Form er hatte. Einerseits war der Raum so eng, dass eine stark übergewichtige Person wohl aufpassen müsste, nicht steckenzubleiben. Andererseits hatte der Raum jedoch eine imense Länge, die von einem kleinen Lichtfleck, ganz am Ende, begrenzt wurde.
Das mulmige Gefühl wog inzwischen deutlich schwerer. "Eigentlich habe ich jetzt genug gesehen", dachte er sich. "Eigentlich wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, um umzukehren." Doch es schien fast, als würde von dem Lichtfleck ganz hinten eine Anziehungskraft ausgehen. Ohne bewusst zu handeln, begann Julius, erst langsam, dann zügiger und schließlich in riesengroßen Schritten auf das weiße Licht zuzulaufen, das er inzwischen als Fenster vermutete.
In seiner Eile streifte er auch nur flüchtig die Bilder, die auf der linken Seite der Wand in sorgfältigen Abständen angebracht wurden. Darüber: eine große, verkünstelte Überschrift. "Die Bilder sind also Teil eines großen ganzen Kunstwerks", murmelte er, während er gerade an einem Gemälde vorbeilief, auf dem er zwei Frauen in einer Hütte erkennen konnte, die vermutlich hoch oben in den Bergen stand. Doch er war zu schnell, um das Bild genauer zu studieren.
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Kunst
Short StoryAlles ist Kunst. Und: Kunst ist alles. Machmal zumindest. Wenn Menschen Spuren hinterlassen - wie diese Kurzgeschichten. Über lebendige Bilder. Über Vernetzung, Abstraktheit, Unendlichkeit. Und deren Grenzen. Und so starrten sie. Eine Weile. Bis sic...