Du strahlst mich an. Deine unergründlich tiefen, braun-grünen Augen sind leicht zusammengekniffen - betont durch perfekt aufgetragene, aber nicht zu aufdringliche Schminke, die du eigentlich gar nicht nötig hättest. Deine vollen Lippen sind noch roter als sonst – ein deutlicher Kontrast zu den makellosen, weisen Zähnen. Dein braunes, langes Haar windet sich in einem eleganten Knoten auf deinem Hinterkopf, nur ein paar Strähnen hängen heraus und rahmen das wohl schönste Gesicht ein, das ich je gesehen habe. Mein Blick wandert nach unten, weiter hinab an dir. Ein schlichtes, schwarzes Abendkleid verbirgt das, was die perfekten Kurven erahnen lassen. Doch die langen, sportlichen Beine, die in einem Paar eleganter Schuhe enden, sind nicht bedeckt. So stehst du da; vor einem roten, kunstvollen Vorhang, ein paar weise Rosen in der linken Hand.
Ich schaue dich an.
Es dauert eine Weile,
doch dann bemerkst du meinen Blick
und erwiderst ihn.
Früher hättest du den Kopf schief gelegt.
Dein Lächeln wäre wahrscheinlich zu einem frechen Lachen gewachsen.
Wahrscheinlich wärst du mit beschwingtem Schritt auf mich zugegangen; wahrscheinlich hättest du deine Arme ausgebreitet. Wahrscheinlich hätten mich deine Arme umfangen und eingeschlossen. Wahrscheinlich hätten sie mir das tiefe, intensive Gefühl von Freundschaft und Geborgenheit vermittelt, das kaum ein anderer Mensch je in mir auslösen konnte und vermutlich je können wird.
Ich war so stolz. Stolz, dass es dich gibt; stolz auf deine Freundschaft. Stolz auf deine Schönheit. Und auf dein Lachen. Und die neidischen Blicke.
Das alles ist noch gar nicht so lange her. Wir sind noch gar nicht so lange her. Viel Zeit ist nicht vergangen.
Vielmehr sind wir es, die in dieser Zeit vergangen sind. Es scheint fast, als hättest du eine Reise an das andere Ende der Welt gemacht; fort von uns. Als du wieder da warst, fehlte ein Teil. Unser Teil. Vielleicht ist er dort irgendwo verloren gegangen. Ich weiß es nicht. Auch weiß ich nicht, ob ich je wieder danach suchen werde. Ich glaube nämlich, er ist in einem ziemlich guten Versteck, wenn ihm bis jetzt noch nichts zugestoßen ist.
Jedenfalls: Früher hättest du den Kopf schief gelegt.
Manchmal sagen die Leute, früher war alles besser.
Jetzt ist da kein schiefer Kopf mehr, auch kein Lachen.
Jetzt verschwindet langsam das Lächeln aus deinem Gesicht, wie Kreide, die mit einem triefend nassen Schwamm langsam, sauber und endgültig von einer Tafel gewischt wird. Deine Stirn glättet sich, ebenso die kleinen Grübchen deiner Wangen. Die Hand mit den Rosen lässt du fürs Erste sinken. Langsam beginne ich zu verstehen. Die Karten liegen jetzt offen auf dem Tisch, ein letztes Mal. Du fühlst dich erwischt und das mit Recht!
Dann Schritte, draußen auf dem Flur, die mich kurz aus der Fassung bringen.
Ich hebe meinen Blick wieder zur Wand hin. Dein Gesicht hat jetzt einen verdutzten, fast schon erschrockenen Ausdruck angenommen. Ich meine, auch ein bisschen Verlegenheit darin zu erkennen. So, als hättest du nicht damit gerechnet, entdeckt zu werden. Da sitzt etwas ganz tief in meinem Hals. Hauptsächlich ist es Schmerz. Und Enttäuschung. Ich schlucke beides hinunter. Das kostet ziemlich viel Kraft. Bevor du dich abwenden kannst, schaue ich dir ein letztes Mal in die Augen. Sie haben kein bisschen an Schönheit verloren. Wieso? Weil da keine Träne ist, die Schminke verschmiert und Fassaden bricht.
Da ist nur Gleichgültigkeit. Und Kälte.
So viel Kälte, dass mir ein Schauer über den Rücken läuft, während du dich jetzt abwendest und die Rosen achtlos zu Boden wirfst. Mit einer Hand greifst du den roten Samt des Vorhangs, um für immer dahinter zu verschwinden. Meine Schreibtischlampe leuchtet dir hinterher, als würde sie dich ein letztes Mal ins Rampenlicht dieser Vorstellung rücken, bevor sich der Vorhang schließt.
Doch wenn die Generalprobe perfekt läuft, dann kommt die Panne meist bei der Premiere. Meine zitternde Hand streckt sich nach dem Foto an der Wand, neben dem so viele andere von einem perfekten Leben erzählen. Da ist ein Bild, das mein erstes Konzert wieder laut werden lässt. Und noch ein anderes, mit den Jungs, draußen auf dem Feld in der Nacht – man könnte fast meinen, unser Lagerfeuer würde weiterbrennen. Oder das von mir und Julius, wie wir uns mit zwei Biergläsern zuprosten, kurz bevor er im Urlaub spurlos und für immer verschwand.
Und eben: Du.
Meine schweißnassen Finger schließen sich um den längst vergangenen Moment und reisen ihn aus seiner Verankerung, herunter von der weisen Tapete. Du gerätst ins Straucheln, knickst ein. Zwar zeigst du mir jetzt nur noch deinen tief ausgeschnittenen Rücken, jedoch wette ich, der Schreck steht dir tief ins Gesicht geschrieben. Mit einer hastigen Bewegung versuchst du verzweifelt, den Vorhang doch noch zu fassen zu kriegen.
Aber deine Hand greift ins Leere.
„Mach's gut", sage ich und schlucke ein letztes Mal,
Dann reise ich das Bild in tausend Stücke.
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Kunst
Short StoryAlles ist Kunst. Und: Kunst ist alles. Machmal zumindest. Wenn Menschen Spuren hinterlassen - wie diese Kurzgeschichten. Über lebendige Bilder. Über Vernetzung, Abstraktheit, Unendlichkeit. Und deren Grenzen. Und so starrten sie. Eine Weile. Bis sic...