Übergewicht

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Wann habe ich eigentlich damit angefangen?

Das habe ich mich kürzlich gefragt, als ich zum ersten Mal gemerkt habe, dass etwas nicht stimmen kann. Da wog ein „Du bist aber süß!" fast genauso viel, wie das „Wir vermissen dich!" von vor zehn Tagen. Völlig absurd, wenn man es mit ein bisschen Distanz betrachtet – was ich aber lange Zeit nie getan habe.

Wann ich also damit angefangen hätte, habe ich mich dann jedenfalls gefragt. Schwer zu sagen, wenn ich so darüber nachdenke. Die Waage gibt es mit Sicherheit schon eine ganze Weile. Solange ich mich erinnern kann steht sie schon bei uns im Keller, in der letzten Ecke der Werkstatt meines Vaters, dort, auf dem uralten Holztisch.

Früher bin ich daran vorbeigelaufen, weil andere Dinge von größerem Interesse waren. In einer Kindheit, in der es nicht so wichtig war, was gewogen werden sollte und was nicht. Man wusste es meistens, einfach aus dem Bauch heraus.

Irgendwann war mir das aber scheinbar nicht mehr genau genug, dieses „aus dem Bauch heraus". Ich bin in den Keller, bin nach hinten in die letzte Ecke – und habe dann eines Tages mein erstes Wort gewogen. Wenn ich mich recht erinnere, dann war es ein „Dankeschön" von einem Mädchen, in das ich damals verliebt gewesen war. Ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Wie gebannt habe ich auf das verstaubte Ziffernblatt der Waage gestarrt. Und riesig war die Enttäuschung, als es am Ende kaum über das Gewicht einer Feder hinausging.

Vielleicht waren es diese nicht erfüllten Erwartungen, vielleicht war es aber auch die Faszination für Genauigkeit oder die Täuschung des ersten Eindrucks. Aber von diesem Tag an habe ich gewogen wie ein Weltmeister.

Zuerst nur einzelne Phrasen, die ich nicht richtig einordnen konnte. Ich habe sie heimlich aufgesammelt und bin dann abends vor dem Schlafengehen die Kellertreppe hinabgestiegen. Irgendwann wurde es dann mehr mit der Wiegerei, bis es schließlich fast zu einer Störung wurde; man könnte fast sagen, zu einem Gewichtsproblem. Mit Säcken voller Wörter und Sätzen, mit „Ich liebe dich's", „Vielleicht's" und „Ein ander Mal's", bin ich Tag für Tag in den Keller und habe nächtelang gewogen, wenn alle anderen schon geschlafen haben.

Ich konnte nicht schlafen in dieser Zeit, aber ich wurde gut. Irgendwann so gut, dass ich dann nur noch aus Routine wog, mich aber eigentlich in Sicherheit wähnte. Bei jedem Wort, dass ich auf die alte Goldwaage gelegt habe, wusste ich dann meistens schon, wo der Zeiger stehenbleiben würde. Sogar die Dinge, die zwischen den Zeilen noch zu finden waren, wurden wie selbstverständlich mitgewogen.

So vergingen vielleicht fünf, vielleicht auch sechs Jahre des Abwiegens, Abwägens und Gewogen-werdens, bis ich vor kurzem gemerkt habe, dass etwas nicht stimmen kann. Dann hat mich die Panik gepackt, und ich habe das alte Ding genommen und bin damit in die Stadt. Wie besessen bin ich die Geschäfte abgelaufen, vor allem Uhren- und Ramschläden. Und irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit des Umherirrens, hat ein alter Flohmarkthändler etwas ziemlich schweres gesagt:

„Die funktioniert doch noch einwandfrei", hat er vor sich hingemurmelt und den Satz dann zum Beweis auf die Waage gelegt.

Tatsächlich. Der Alte hatte recht. Verwundert und erleichtert zu gleichen Teilen habe ich im dann das „Du bist aber süß!" gezeigt, das ich vorsichtshalber einmal mitgenommen hatte. Und wieder war es einfach viel zu schwer.

„Manchmal", sagte der Alte dann, „haben die auch einfach Übergewicht. Warten Sie mal ein paar Wochen, und füttern sie ihn nicht. Dann sollte es wieder stimmen.

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