1. Zwei an einem Tag

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„Autsch.", stieß ich mühevoll hervor und umklammerte meinen Bauch, während der Schmerz mich mit voller Härte traf und mir für einen Augenblick den Atem raubte. Ich starrte in den tiefblauen sternenlosen Himmel über mir und wartete darauf, dass der Schmerz langsam nachlassen würde. Mein Atem stieg vor meinen Augen in kleinen Wolken auf und verschwand wenige Sekunden später wieder. Ich lag für eine Weile auf dem kalten Boden und versuchte, mich auf das stetige Aufsteigen und Verschwinden und nicht auf den Schmerz zu konzentrieren. Wieso heute? Wieso musste soetwas genau heute passieren?

Der Schmerz fing an nachzulassen, bis er erträglich genug schien um mich aufrichten zu können. Ich stützte mich auf meine Ellenbogen und schaute auf mein Sweatshirt, das vor ein paar Minuten noch weiß und nun blutgetränkt war. Vorsichtig schob ich es hoch und wagte einen Blick auf das Loch, welches die Kugel hinterlassen hat. Fasziniert fuhr ich mit einem Finger die Ränder entlang. Ich hatte noch nie eine Schusswunde gesehen, ganz zu schweigen an meinem eigenen Körper. Natürlich würde in wenigen Stunden davon nichts mehr zu sehen sein. Bereits jetzt konnte ich sehen, wie die Wunde vor meinen Augen heilte. 

Ich wartete noch ein wenig länger, bis die Wunde aussah, als wäre sie schon einige Wochen alt, und richtete mich vollständig auf. Die Gasse in der ich stand war menschenleer und mittlerweile stockdunkel. Ich bückte mich und tastete um mich, um nach meiner Handtasche zu greifen, doch ohne Erfolg. „Mistkerl", murmelte ich und dachte an die dunkle Gestalt, die mich in diese Gasse hin verfolgt und schließlich erschossen hatte. Wie es schien hatte sich das Arschloch daraufhin meine Handtasche geschnappt und ist weggerannt, meinen toten Körper einfach hier liegen lassend. Ich stieß einige Flüche aus. In der Tasche war alles gewesen, was ich in einer Situation wie dieser brauchen konnte: Geld, mein Handy und alle meine Ausweise. Warum heute? Warum musste ich genau heute sterben? Und welcher Taschendieb trug eine Waffe mit sich?

Die Kälte der Novembernacht begann an mir zu nagen. Es machte keinen Sinn, ewig in dieser Gasse zu stehen. Zitternd zog ich meinen Mantel so fest wie möglich um meinen Körper und ignorierte das schmerzhafte Pochen der Schusswunde, die sich nun mehr wie ein Bienenstich anfühlte.

Bei dem Versuch, meinen Verfolger loszuwerden, war ich vom Weg abgekommen. Ohne Geld für ein Taxi würde es eine Stunde dauern, bis ich zuhause ankommen würde. Es war spät und dunkel und ich hatte keine Lust, in die Arme eines weiteren Straßendiebes zu laufen, und so entschied ich mich, mich zunächst irgendwo aufzuwärmen und mir jemandes Handy zu borgen, um die anderen anzurufen. Hoffentlich würde sich einer von ihnen bereiterklären, mich abzuholen.

Ich begann zu laufen, die Hände tief in den Taschen meines Mantels vergraben und mit gesengtem Kopf gegen den eiskalten Wind, ohne groß darauf zu achten, wo meine Füße mich hinführten. Ich hatte mein ganzes Leben in London verbracht, wurde hier geboren und war nie woanders gewesen. Ich brauchte keinen Stadtplan und kein Handy um zu wissen, wo ich war. Das endlose Labyrinth der Straßen war in meine Erinnerung gebrannt; ich bin sie alle entlanggelaufen und der Gedanke, mich zu verlaufen, war fast lächerlich. London war mein Zuhause, und ich liebte die Stadt, selbst an Tagen wie diesen.

Leise Musik drang in meine Ohren und ich blickte auf. Auf der anderen Straßenseite war ein alter Pub, aus dessen schmutzigen Fenstern goldenes Licht schien und den Gehweg erhellte. Als ich näherkam hörte ich das dumpfe Brummen mehrerer Stimmen, gemischt mit lautem Gelächter und der Musik. Vielleicht würde sich ja hier jemand finden, der mir sein Telefon leihen könnte.
Wärme überflutete mich, als ich die Tür zum Pub öffnete und den großen Schankraum betrat. Der Raum war gefüllt mit Menschen, die anscheinend alle beschlossen hatten, ihren Freitagabend mit einer Flasche Bier und Geläster über die vergangene Woche ausklingen zu lassen, doch an der Bar erspähte ich einen freien Platz. Erschöpft ließ ich mich auf dem Barhocker nieder. „Was kann ich dir bringen?", fragte der Barkeeper.

„Habt ihr ein Handy, mit dem ich kurz jemanden anrufen kann?", fragte ich hoffnungsvoll, doch er schüttelte nur den Kopf und deutete zu der anderen Seite des Raums, wo ein altes Münztelefon stand. Ich stöhnte und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Wie konnte man nur so viel Pech an einem Tag haben?

„Du kannst mein Handy benutzen.", sagte jemand neben mir.
Ich ließ meine Hände sinken und sah überrascht zu dem jungen Mann neben mir, der mich nun schüchtern anlächelte.

„Wirklich?"

„Na klar", meinte er und hielt mir sein Telefon entgegen.
Dankbar nahm ich es und wählte Zachs Nummer. Ungeduldig wartete ich darauf, dass er ranging, doch nur seine Mailbox antwortete.

„Hey, das ist die Mailbox von Zach. Hinterlasse eine Nachricht oder lass' es sein.", sagte die mir nur allzu bekannte grimmige Stimme.
„Zach? Ich bin's, ruf mich zurück sobald du diese Nachricht hörst. Ich brauche deine Hilfe."

Ich versuchte, die anderen zu erreichen, aber keiner antwortete, und enttäuscht gab ich dem Mann sein Telefon wieder zurück.

„Vielleicht rufen sie ja zurück.", sagte der Typ aufmunternd. „Es hat keine Eile, ich habe sowieso nichts Besseres zu tun."

„Es ist so typisch, dass sowas mir passiert.", murmelte ich.

„Nicht schlimm, jeder hat mal einen schlechten Tag." Er hatte nicht die geringste Ahnung, wovon er redete. Immerhin glaubte ich wohl kaum, dass er jemals an einem Tag zuerst erschossen und dann ausgeraubt wurde.

„Ich bin übrigens Reece.", sagte er.
„Alexandra."
„Das ist ein schöner Name.", meinte er und nahm einen Schluck von seinem Getränk. Verwundert musterte ich sein Profil. Er schien betont entspannt auf dem unbequemen Hocker zu sitzen und den Barkeeper zu beobachten, doch bei genauerem Hinsehen merkte ich wie sein Knie unruhig zitterte und seine Gestalt mehr steif als entspannt war. Als er meinen Blick auf sich spürte drehte er sich zu mir und lächelte mich schüchtern an.

„Willst du etwas trinken?", fragte er höflich.

Ich schüttelte meinen Kopf. „Kein Geld."

„Ich geb' dir einen aus. Was soll's sein? Bier?"

Zuerst wollte ich ablehnen, doch welchen Zweck hatte es? Wenn ich schon in einem Pub festsaß, dann konnte ich auch etwas trinken. Reeces Lächeln wurde breiter, als ich nickte. Er schien viel zu glücklich über die Tatsache zu sein, mir ein Bier bestellen zu dürfen.

„Also, was verschlägt dich an einem Freitagabend allein in einen Pub?", begann Reece von Neuem, als mir der Barkeeper eine Flasche Bier gab.

„Du weißt schon...was man halt so an einem Freitagabend macht.", sagte ich schulterzuckend und trank einen Schluck. Mir lief ein Schauder über den Rücken. Vielleicht hätte ich mir doch lieber etwas Warmes bestellen sollen.

„Zum Bespiel?", hakte er nach. Er schien auf Smalltalk zu stehen, doch ich hatte keine gut ausgedachte Lüge parat.

„Naja...ich war auf dem Weg nach Hause, aber es war so kalt und der Weg so weit, dass ich mich lieber etwas aufwärmen wollte." Das stimmte immerhin zum Teil.

„Wieso nimmst du nicht einfach einen Bus oder ein Taxi?"

„Kein Geld, schon vergessen?"

„Stimmt ja.", sagte Reece und seine Ohren färbten sich rot. „Also musst du laufen?"

„Jup.", sagte ich seufzend.

„Hast du nicht Angst, allein im Dunklen durch die Straßen zu laufen? Ich glaube, für mich wäre das nichts." Er lachte und sah mich dabei mit strahlenden Augen an. Langsam bekam ich das Gefühl, dass sein Freitagabend besser wurde als zuvor erhofft.

„Nicht wirklich. Was soll schon passieren? Bewaffneter Raubüberfall?", sagte ich trocken und trank noch einen Schluck. Reece lächelte leicht unentschlossen, als wüsste er nicht, ob ich gerade einen Witz erzählt hatte oder es ernst meinte.

„Wie auch immer, was machst du hier? Außer fremden Frauen Drinks zu spendieren?", versuchte ich das Thema zu wechseln.

„Ich hatte nichts anderes zu tun. Und hier ist es wirklich interessant.", meinte Reece.

Ich sah mich in dem stickigen Raum um. „Überteuertes Bier und einen Haufen angetrunkener Typen. Ja, wirklich interessant." Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie mir der Barkeeper einen finsteren Blick zuwarf.

„Ich meine das vollkommen ernst!", sagte Reece schüchtern. „Gib den Menschen genug Bier und sie erzählen die besten Geschichten."

„Also sitzt du hier die ganze Zeit und belauschst andere Leute?", fragte ich und zog die Augenbrauen hoch. Wieder liefen seine Ohren rot an.

„Na super, jetzt muss ich wie der letzte Spinner wirken.", sagte Reece deprimiert und trank in einem Zug den Rest seines Getränkes aus.

„Nein. Eigentlich nicht. Jeder hat doch irgendeine Macke."

„Was ist deine?"

Ich zuckte wieder nur mit den Schultern und sagte nichts. Dabei fielen mir sofort viele sonderbare Macken von mir ein. Zum Beispiel die Eigenschaft, erschossen zu werden und kurze Zeit später an einer Bar zu sitzen und mit einem fremden Typen Bier zu trinken. Ja, das könnte auf den ein oder anderen vielleicht etwas seltsam wirken.

„Du redest nicht gerne über dich, oder?", stellte Reece fest.

„Es gibt einfach nicht viel über mich zu erzählen.", meinte ich.

„Wir müssen nicht reden, wenn du nicht willst. Wir können auch einfach weiter trinken und den Gesprächen der anderen lauschen.", sagte Reece lächelnd. Er schien immer selbstbewusster zu werden. Zuerst wollte ich ablehnen. Ich sollte mich wirklich auf den Weg nach Hause machen. Doch hier drinnen war es warm und so gemütlich, wie es auf einem alten Barhocker sein konnte, also nickte ich. Sein Lächeln wurde breiter und er rief nach dem Barkeeper, um uns noch ein Bier zu bestellen.

19 TodeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt