Schleierkraut im Regen

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Prudence hob ihren Rock und eilte so schnell über den Flur, wie es für eine junge Dame gerade noch angebracht wäre, sollte sie erwischt werden. Wie ein gejagtes Reh sah sie sich immer wieder nach hinten um. Der Regen, der gegen die Fensterscheiben des Flures prasselte, klang wie Musik in ihren Ohren und er war greifbar nah, wenn sie nur das Glück haben sollte, nicht erwischt zu werden. Es hatte schon seit langer Zeit nicht mehr geregnet, vor allem für englische Verhältnisse, weshalb sich sogar die Gäste im Saal über ihn gefreut hatten. Aber Prudence freute sich nicht einfach nur über den Regen. Regen freute sie immer, egal wie häufig er vorkam, wie heftig er war, denn er bedeutete für sie Leben, die Erneuerung der Welt. In diesem Moment sehnte sich nach ihm. Wie ein Seufzer der Erleichterung drang die warme Abendluft zu ihr, als sie die Tür öffnete, nach draußen huschte und sie wieder schloss. Gierig sog sie den Geruch der feuchten Luft und der Blumen des Gartens ein und genoss das Gefühl der kühlen Glastür an ihrem Rücken, gegen die sie sich lehnte. Dann öffnete sie die Augen.

Der Mann, der vor ihr stand, sah genauso überrascht aus, wie sie sich fühlte. Wobei sie gar nicht so genau wusste, warum sie überrascht war, ihn hier zu sehen, wo sie doch vom ersten Augenblick an wusste, wer er war. Er war kleiner als seine Brüder, gerade einmal einen halben Kopf größer als sie. Und er sah nicht aus wie sie. Andere hätten vielleicht gesagt er wäre unattraktiver. Aber für Prudence war dem nicht so. Er war anders. Besonders. Seine Wangenknochen und die Konturen seines Kiefers weckten in ihr den Wunsch ihn zu zeichnen. Hatten seine Brüder auch diese unglaublich dunklen Augen gehabt, deren Blick Prudence durch Mark und Bein ging und ein seltsames Kribbeln in ihr auslöste, oder lag das nur an dem schummerigen Licht der Laterne? Es lag bestimmt nur am Licht. Eine andere Lösung hätte Prudence in diesem Moment nicht gelten lassen, da sie viel zu wütend auf ihn war, dafür, dass sie nicht einmal hier die Genugtuung fand, allein sein zu können.

„Das ist meine Terrasse", stellte sie wenig charmant klar. Aiden Nightingale hob eine Augenbraue.

„Ich bin mir recht sicher, dass die Montgomerys nur Söhne haben", merkte er an. „Und da Sie nicht aussehen wie ein Sohn, denke ich nicht, dass Sie ein Anrecht auf diese Terrasse haben."

Prudence' bereits im Voraus genügend angespannte Nerven brachten sie dazu, sich von der Tür abzustoßen und aufrecht hinzustellen. Dass sie wusste, dass er Recht hatte, regte sie nur noch mehr auf. Sie drehten sich in Richtung Garten, nicht bereit, auch nur einen Fuß ins Haus zu setzen.

„Ich habe ein größeres Recht darauf hier zu sein als Sie", entschied Prudence sich, es mit einem deutlich handfesteren Argument zu versuchen. „Ich musste mich schon durch die Hälfte des Balls quälen, während Sie sich äußerst unehrenhaft seit dessen Beginn hier verstecken. Ihre Brüder suchen sie überall, um sie unsympathischen Menschen vorstellen zu können. Seien Sie ein Mann und stellen sich ihnen, Mr. Aiden Nightingale."

Mr. Aiden Nightingale verschränkte seine Arme vor seiner starken Brust, über die Prudence lieber nicht zu genau nachdenken wollte, und zog die Augenbrauen zusammen.

„Da Sie wissen, wer ich bin, vermute ich, dass Sie eine dieser unsympathischen Personen sind?" Prudence entging die versteckte Beleidigung darin nicht.

„Mein Name ist Prudence Purcell. Mein Vater ist ein Geschäftspartner von Mr. Mullens." Sie hatte bewusst nicht etwas wie „ihrem Onkel" oder der Gleichen gesagt, da sie immer noch nicht ganz verstanden hatte, in welcher Beziehung die beiden zueinander standen. Und da sie Mr. Mullens mochte, klang für sie „ihr Verwandter" einfach zu unpersönlich. In Aidens Augen sprühte ein Funken Interesse auf, der jedoch sofort wieder erlosch.

„Ah. Ich denke er hat von Ihnen geschrieben."

Es war selten gut, was die Leute über sie sprachen. Aber bei Mr. Mullens machte sie sich da eigentlich gar keine so großen Sorgen. Halbherzig und immer noch nicht zu einem Gespräch bereit erwiderte sie die Floskel: „Hoffentlich nur Gutes."

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