Der Junge mit den Mohnblumen

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Der Vorfall ereignete sich vor ein paar Monaten. Bekannte von mir fuhren für eine Woche in Urlaub, und da ich gerade Semesterferien hatte, baten sie mich, in der Zeit ihr Haus zu hüten. Das Haus steht außerhalb der Stadt am Waldrand und hat keine direkten Nachbarn. Um Einbrecher gar nicht erst auf den Plan zu rufen, würde ich dem Haus also für eine Woche Leben einhauchen.

Zuerst freute ich mich darauf, meiner lauten 4er-WG zu entkommen und ein ganzes Haus für mich alleine zu haben. Schon bald nach der Ankunft überkam mich jedoch ein seltsames Gefühl. Das Haus war riesig, verfügte über zwei Stockwerke, und weil es schon älter war, knackte und knarzte es ständig. Bei der Aussicht, hier eine Woche alleine zu verbringen, wurde mir mulmig zumute. Da ich über drei Stunden von meinem üblichen Wohnort entfernt war, konnte ich wohl auch keinen meiner Freunde zu einem Besuch motivieren.

Ich war gerade dabei, meine wenigen Sachen im Schlafzimmer im ersten Stock zu verstauen, als es an der Türe klingelte. Wer konnte das sein? Wie erwähnt erwartete ich niemanden und hatte auch keine Nachbarn, die mich in Empfang nehmen könnten.

Es dämmerte bereits und ich konnte beim Blick nach draußen zuerst niemanden entdecken. Also blieb mir nichts anderes übrig, als die Türe zu öffnen. Als ich meinen abendlichen Besucher zu Gesicht bekam, war ich im ersten Moment erleichtert. Es war ein kleiner Junge.
Auf den zweiten Blick wurde ich jedoch stutzig. Der Junge sah aus, als ob er direkt aus den 50er Jahren vor meiner Türe gelandet wäre. Sein Gesicht und seine altmodischen Kleider waren schmutzig. Zudem hielt er die Hände hinter dem Rücken, als ob er etwas verstecken wollte.

„Kann ich dir helfen?", versuchte ich herauszufinden, was der Kleine hier wollte und ob er Hilfe brauchte.
Er antwortete nicht sofort, sondern fing an zu grinsen. Ein unheimliches Grinsen, das Gänsehaut über meine Arme jagte. Dann endlich antwortete er: „Ich verkaufe Blumen. Meine Familie braucht Geld."
In dem Moment holte er die Arme hinter dem Rücken hervor und gab einen Strauß blutroter Mohnblumen preis. Todesblumen, schoss es mir durch den Kopf.

Ein leichter Windhauch ließ die Köpfe der Blumen tanzen und wehte dem Jungen durch sein seidig-schwarzes Haar.
„Ähm... okay", stammelte ich, da mir die Situation irgendwie bizarr erschien.
„Wie viel kostet denn eine Blume?"
„50 Cent." Seine Stimme klang hohl und nicht wie ich sie mir von einem Jungen in seinem Alter gewohnt war. Außerdem machte mich der Preis stutzig - wie wollte er bei 50 Cent pro Blume etwas verdienen?

„Dann nehm ich drei Blumen", entschied ich mit freundlicher Zurückhaltung. „Warte einen Moment, ich hole nur schnell meinen Geldbeutel."
Ich hastete nach oben - aus irgendeinem Grund wollte ich den Jungen so schnell wie möglich wieder loswerden. Er war mir echt unheimlich.
Als ich die Treppe wieder nach unten eilte, fand ich den Jungen im Eingangsbereich des Hauses vor. Ich hatte ihn nicht reingebeten und die Türe nur angelehnt.
„Also drei Blumen haben wir gesagt - das sind dann 1 Dollar 50, richtig?"
Er nickte geistesabwesend und blickte sich neugierig im Haus um.
„Hier ist das Geld." Energisch hielt ich ihm die Münzen hin. Ich wollte einfach nur noch, dass er verschwand.

„Danke, Ma'am", antwortete er und suchte mir drei Blumen aus seinem Strauß heraus. „Vergessen Sie nicht, die Blumen ins Wasser zu stellen Ma'am. Sonst sterben sie."
Der letzte Satz war nur noch ein Flüstern und meine Nackenhaare stellten sich auf.
„Klar, mach ich gleich, danke. Ich wünsche dir noch einen schönen Abend", sagte ich mit gespielter Fröhlichkeit, aber selbst ich hörte den ängstlichen Unterton in meiner Stimme.

„Darf ich noch kurz Ihr Badezimmer benutzen?"
Alles in mir schrie danach, den Jungen am Kragen zu packen und vor die Tür zu stellen. Dabei verstand ich gar nicht warum; er hatte nichts getan, außer etwas gruslig daherzukommen. Jetzt im Nachhinein wünschte ich, ich hätte auf mein Gefühl gehört und ihn weggeschickt. Aber mein Anstand zwang mich zu einem weiteren freundlichen: „Klar doch! Das Badezimmer ist im ersten Stock."

Nackte Angst - Horror Kurzgeschichten | slow update 📖Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt