Die unheimliche Massage

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Eigentlich hätten schon beim Anblick des Flyers alle Alarmglocken bei mir schrillen sollen. Von einem schwarzen Hintergrund blickte mir eine Frau mit Turban entgegen. Ihr Ausdruck war so eindringlich, ihr angedeutetes Lächeln so mysteriös, dass ich sicher eine Minute lang wie gebannt auf das glänzende Papier starrte. Um ihren Hals wanden sich vertrocknete Blumen und zwei grüne Schlangen.

Gypsy Massagen, stand da in schnörkeligen Lettern, die die gleiche Farbe hatten wie die Schlangen. Zigeunermassagen?

Die erste Massage ist kostenlos! Und dann noch eine Telefonnummer. Ich drehte den Flyer um, aber die Rückseite war leer. Keine weiteren Infos. Sollte ich einfach mal dort anrufen? Wer ließ sich schon eine kostenlose Massage entgehen?

Noch einmal verweilte mein Blick auf dem Frauengesicht. Dann sog ich scharf die Luft ein und mein Herz machte einen Satz.

Hatte ich mir das gerade eingebildet? Es hatte so ausgesehen, als ob sich die Mundwinkel der Turbanfrau etwas gehoben hätten. Als ob sie mich ermuntern wollte, die Nummer zu wählen. Genervt schüttelte ich meinen Kopf. Ich war definitiv überarbeitet und litt unter Erschöpfungshalluzinationen.


Eine gute Woche später an einem regnerischen Sonntag fiel mir der Flyer beim Aufräumen wieder in die Hände. Das stressige Unileben und Lernen bis spät in die Nacht hatten ihren Tribut gezollt. Mein Rücken war so verspannt wie der eines 70-jährigen Minenarbeiters. Wenn ich meinen Kopf nach links und rechts kippte, klang es, als würde man einen vertrockneten Stock in vier Stücke brechen. Und da mein Nebenjob mit mickrigem Studentengehalt gerade mal für Miete und Essen reichte, lag eine teure Massage nicht drin. So beschloss ich, Gypsy Massagen doch eine Chance zu geben.

Die Stimme der Dame am Telefon hatte zwar einen seltsam melodiösen Unterton, aber ansonsten erschien mir alles ziemlich normal. Ich bekam noch am selben Nachmittag einen Termin. Sie teilte mir die Adresse mit und gab sich besonders Mühe bei der Wegbeschreibung.

Unterwegs im Bus kam ich auf die glorreiche Idee, nachzuschauen, ob der Massagesalon eine Webseite hatte. Meine Suche blieb jedoch erfolglos. Ebenso der Versuch, über Yelp und ähnliche Portale Bewertungen oder Erfahrungsberichte zu finden. Vielleicht war es ein neues Geschäft und die kostenlosen Massagen eine Marketingstrategie.

Ich hatte irgendwie damit gerechnet, dass der Salon in einem abgefuckten Industrieviertel oder einer dunklen Seitengasse lag. Tatsächlich aber lag er am anderen Ende des Stadtparks in einer ruhigen Nebenstraße zwischen einem griechischen Restaurant und einem Konkurs gegangenen Motorradshop. Alles schien normal, doch als ich mich dem Lokal näherte, fühlte ich mich seltsam beobachtet. Im Augenwinkel registrierte ich eine Bewegung. Als ich meinen Blick wandte, bemerkte ich, wie sich der purpurfarbene Vorhang hinter dem Schaufenster bewegte. In mir regte sich Widerstand gegen den Salonbesuch. Aber ich hatte keine Lust, mit meiner inneren Stimme zu diskutieren. Und so drückte ich den Türgriff nach unten und beim Bimmeln der Eingangsglocke, raufte meine Intuition sich die Haare.



"Hallo?"

Der Empfangstresen war leer. Es roch muffig in dem Raum, was womöglich an den schweren Vorhängen lag, die nicht nur vor den Schaufenstern, sondern auch an den Wänden angebracht waren. Eine orientalische Mosaiklampe tauchte alles in schwaches Licht.

"Hallo?", versuchte ich es noch einmal. Keine Antwort.

Ich wagte einen Blick über den Tresen und entdeckte ein aufgeschlagenes Buch. Der Papierfarbe nach zu urteilen, war es ziemlich alt. Die Schrift erinnerte mich an Runen. Wieder beschlich mich das Gefühl beobachtet zu werden und meine Nackenhaare sträubten sich. Eigentlich hatte ich schon beschlossen, wieder zu gehen, aber irgendetwas hielt mich zurück. Zögerlich trat ich rechts hinter dem Tresen durch einen Durchgang, der im Halbschatten lag und rief noch einmal ein fragendes "Hallo?"

Nackte Angst - Horror Kurzgeschichten | slow update 📖Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt