Marienkäferkinder

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Ein kleines Mädchen, nicht älter als acht Jahre, saß vor der großen Kirche auf einer Bank und betrachtete einen Marienkäfer, der sich dort niedergelassen hatte.
Sie war fasziniert von dem Farbenspiel vom Rot und Schwarz. Während sie versuchte, die Punkte zu zählen, wanderte der kleine Kerl die Sitzfläche entlang.


,,Vorsicht!", rief sie, doch ihre Warnung kam zu spät. Eine ältere Dame hatte sich bereits hingesetzt und den Marienkäfer plattgedrückt.
Betroffen stand das kleine Mädchen auf.


,Wie kann das Glück einfach so zerquetscht werden?', dachte sie. ,Das ist doch unmöglich!'


Sie setzte sich nicht wieder auf eine Bank. Stattdessen ging sie langsam in den Park, wo um diese Zeit viele Menschen waren. Pärchen und Studenten, Rentner und Eltern mit ihren Kindern. Es war, als würde die ganze Stadt da sein.


Am Rande des Kiesweges setzte sie sich und betrachtete nachdenklich die Steine.
,Marienkäfer sind Glück. Also...tötet man das Glück, wenn man einen Marienkäfer tötet? Und wieso sollte jemand das Glück nicht haben wollen? Jeder will doch glücklich sein! Wieso sind Marienkäfer auch so klein und zerbrechlich? Ist das Glück genauso? Sind Marienkäfer deshalb so zerbrechlich? Weil das Glück so ist?'


Als jemand sie ansprach, schrak das Mädchen zusammen. ,,Ist alles gut bei dir, Kleine?" Eine junge Frau kniete vor ihr, hinter ihr stand ein anderer Erwachsener. Die junge Frau blickte besorgt und fast mütterlich auf das Mädchen hinab.
Dieses schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht, wieso, aber plötzlich sprudelten alle Gedanken, die sie über die Marienkäfer hatte, aus ihr heraus.


Als sie verstummte, sah die junge Frau sie nur an. Dann breitete sich langsam ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. ,,Das sind schöne Überlegungen." Sie senkte, immer noch lächelnd, die Stimme. ,,Versprichst du mir, gut auf die Marienkäfer aufzupassen?"


Das kleine Mädchen nickte.


Die Jahre vergingen.


Aus dem kleinen Mädchen, das jeden Tag in den Park ging, wurde eine Teenagerin, die jeden Tag in den Park ging. Immer, wenn sie dorthin kam, suchte sie sich Marienkäfer, setzte sie sich auf die Hand und sah ihnen beim Krabbeln zu.


Sie hatte sich nicht verändert. Ihr Versprechen, auf die Marienkäfer Acht zu geben, vergaß sie nie. Nach all den Jahren - es mussten mindestens sechs gewesen sein- nannte man sie das Marienkäfermädchen.
Denn wer immer an ihr vorbeiging, sah sie dasitzen und auf ihre mit Marienkäfern besetzten Hände starren.


Die Jahre vergingen.


Aus der jungen Frau vom damals war eine alte Frau geworden, aus dem Marienkäfermädchen eine andere junge Frau.


Mit der Zeit kamen die Kinder aus der Stadt vorbei, die die Frau am Wegesrand sahen und sie fragten, was sie da tue. Ohne die roten Käfer auf ihrer Hand aus den Augen zu lassen, sagte sie: ,,Ich passe auf das Glück auf." Woraufhin die Kinder fragten, wieso sie das tue.
,,Marienkäfer sind das Glück. Und jeder braucht ein bisschen Glück.", antwortete die Marienkäferfrau.
Sie nahm einen ihrer Käfer und setzte sie den Kindern auf die Hand. Während sie alle dasaßen und die Marienkäfer bestaunten, erzählte die Marienkäferfrau ihnen Geschichten.
Geschichten über die Tiere und Pflanzen, Geschichten über das Traurigsein und das Frohsein, Geschichten aus der Vergangenheit und über die Zukunft und Geschichten über Marienkäfer.


Die Jahre vergingen.


Die Marienkäferfrau wurde älter.
Trotzdem saß sie jeden Tag im Park, sah ihren Käfern zu und erzählte den Kindern ihre Geschichten. Jeden Tag kamen ein paar Kinder, die ihren Geschichten lauschten und dabei die kleinen rot-schwarzen Käfer auf ihrer Hand betrachteten.


Trotz allem, was die Marienkäferfrau erlebte - die Blicke der Passanten, die abfälligen Worte und die Beleidigungen aus der Ferne - war sie zufrieden mit ihrem Leben.
Denn sie hielt das Versprechen, das sie der jungen-alten-toten Frau von damals gegeben hatte und beschützte das Glück in ihrer Stadt.


,,Wenn ihr eines Tages keine Marienkäfer mehr findet, dann, und erst dann, ist das Glück verschwunden. Wenn auf der ganzen Welt kein einziger Marienkäfer mehr lebt, dann ist das Glück tot.", sagte sie mit ihrer kratzigen, vom Alter geschwächten Stimme, während sie liebevoll die kleinen Tiere auf ihrer Hand betrachtete.
In ihrer Geschichte hatte es sich um zwei Kinder gedreht, die das Glück gesucht hatten. Auf ihrer Reise hatten sie eine Menge erlebt, aber gefunden hatten sie am Ende nichts.


In den Augen der Kinder standen Tränen. Jedes von ihnen versprach sich im Stillen, die Marienkäfer immer zu finden.
Ein kleiner Junge fragte: ,,Und wenn es eines Tages wirklich keine Marienkäfer mehr gibt?"
Seine Stimme war leise und ängstlich.


Zum allerersten Mal in all den Jahren des Geschichtenerzählens sah die Marienkäferfrau hoch und begegnete dem Blick des Jungen.


,,Ich werde das nicht mehr erleben, Junge. Ich bin zu alt." Wie um das zu beweisen, gab sie ein röchelndes Husten von sich. ,,Aber du kannst helfen, das Glück zu bewahren. Erzähl ihnen meine Geschichten und versprich mir, dass du auf die Marienkäfer aufpasst." Der Junge nickte.
Die Marienkäferfrau beugte sich vor und setzte ihm einen winzigen Marienkäfer auf die Stirn. ,,Gut. Das freut mich."


Als wäre nichts gewesen, erzählte sie weiter.


Doch am nächsten Tag saß keine Marienkäferfrau mehr im Park. Am Tag darauf auch nicht. Nach einiger Zeit wurde bekannt, dass die Marienkäferfrau gestorben war, an dem Tag, an dem der Junge versprochen hatte, die kleinen Käfer zu beschützen.


Wenn man durch den Park ging, sah man am Wegesrand einen kleinen Jungen sitzen, der die Marienkäfer auf seiner Hand anstarrte und den anderen Kindern, die ebenfalls Käfer in den Händen hielten, die alten Marienkäferfraugeschichten erzählte.


Nach all den Jahren, die vergingen, nannte man ihn Marienkäferjunge.


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