Totensänger

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Seine dunkle Kleidung verschmilzt wunderbar mit der Dunkelheit. Die wenigen Straßenlaternen helfen da wenig. Es regnet in Strömen, während er seinen nächtlichen Gang zum Friedhof antritt.

Mama.

Dieses Wort, verknüpft mit all den jahrelangen Erinnerungen, beherrscht seine Gedanken, übernimmt seine Handlungen. Seit dem Tod seiner Mutter, der wichtigsten Person bisher in seinem Leben, ist alles anders. Er lebt nun in einem Kinderheim, obwohl er schon vierzehn ist. Oder noch vierzehn. Er weiß es nicht.

Seine Mutter hätte es gewusst.

Dieser Gedanke lässt sein Herz sich schmerzvoll zusammenziehen. Oh, wie er seine Mutter vermisste! In dem Moment, in dem der ihm unbekannte Mann ihm gesagt hatte, dass seine Mutter tot sei, hatte er sich gefühlt, als würde jemand ihn von innen heraus aushöhlen.
Mit einem schweren, mit Stacheln besetzten Messer, das solche Schmerzen verursachte, dass er sich nicht bewegen, nicht atmen konnte. Sein Herz zieht sich sogar jetzt noch, hier im dunkeln Regen, zusammen, wenn er an diesen vom Schicksal verfluchten Moment denkt.

Es gibt Augenblicke, in denen hat er das Gefühl, den Tod seiner Mutter verkraften kann. Dass er auch ohne sie stark sein kann. Aber dann sind da die Augenblicke, in denen er sich am liebsten zu einer kleinen, weinenden Kugel zusammenrollen will und nach seiner Mutter ruft. In denen er schwach ist und den Schutz seiner Mutter braucht.

Ihn nicht bekommen kann, denn seine Mutter ist tot.

Diese Gedanken weiter verfolgend setzt er seinen Weg durch die dunkle, vollgeregnete Stadt fort. In der Nähe vom Friedhof sind weniger Straßenlaternen.

Er wird zu einem Schatten. Er wird genauso dunkel, düster, leer wie ein Geist. Wie der Geist seiner Mutter.

Seine Füße führen ihn zu einem schlichten Grabstein mit kindlichen Zeichnungen. Die Zeichnungen sind von den Vorlagen seiner eigenen Kinderbilder. Seine Mutter will seine Zeichnungen von früher auf ihrem Grabstein haben, schrieb sie im Testament. Und so hat das Bestattungsunternehmen seine Zeichnungen auf den Grabstein geritzt.

Dafür ist der Sohn so unglaublich dankbar.

Er setzt sich im Schneidersitz vor das Grab seiner Mutter. Senkt den Kopf und denkt an alle wunderbaren Momente von früher. Das Teigkneten bei seinem fünften Geburtstag. Der Ausflug in den Dinopark zu seinem achten Geburtstag. Der kalte Wintertag, als sie seine schneeweiße Katze gefunden hatten, kalt und hungrig.

Die Katze, Wölkchen mit Namen, lebt heute noch bei dem Sohn.

An all diese Augenblicke denkt der Sohn, während sein magerer Körper von tieftraurigen Schluchzern geschüttelt wird. Er umklammert seine Knie und zieht die Beine vor seinen Brustkorb. Lässt die Tränen seine Hose benetzen.

Nach vielen, vielen ungezählten Minuten, die er so dasitzt und weint, versiegen seine Tränen. Seine Augen, rot und gerändert vom Weinen und vom Schlafmangel, richten sich auf den Grabstein mit den lächelnden Strichmännchen.

,,Ich hab dich lieb, Mama.", flüstert der Sohn.

Dann beginnt er zu singen.

Jeder, der seine Stimme gehört hat, hat gesagt, sie sei schön. Seine Stimme sei kräftig, klar und strapazierfähig, eine ideale Sängerstimme eben. Aber der Sohn ist kein Sänger. Jedenfalls nicht tagsüber. Nachts dagegen singt er für die Toten, die hier unter der Erde liegen.

Er legt all seine Trauer über den Verlust seiner Mutter in die Töne, die keinen bestimmten Regeln folgen. Keine Wörter, keine vorher festgelegten Noten. Einfach Töne, Silben die sich anhören, als würde sie aus einer fernen Sprache stammen.
Doch sie kommen nicht aus einem fernen Land.

Sie kommen aus der trauernden Seele eine einsamen Sohnes, der für seine tote Mutter singt.

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