Papierseelenfalter

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Die rechte obere Ecke einklappen, dann das Blatt umdrehen, nochmal. Langsam faltete er aus dem quadratischen Stück Papier einen Kranich. ,,Du bist schön. Du bist das Zeichen von Glück und Wohlstand. Du bist es wert, ein Leben zu haben, Herr Kranich."

Er war ein Kind, nicht mal zehn Jahre alt. Doch er sprach, als würde er wissen, was es hieß, zu leben oder zu sterben. Die Art, wie er sprach, wie er ihre Umwelt ansah, ebendiese Art war anders.

Er pustete auf die Flügel des Papierkranichs und stellte sich vor, wie er über die Felder stolzierte, wie er dahinflog.
Der Kranich bewegte die Flügel, die Beine, den Kopf. Er war nicht viel größer als die Hand des kleinen Jungens, doch er war ein perfektes Abbild eines lebenden Tieres. Jedes einzelne Detail war im Papier zu sehen und erlaubte es dem Kranich, zu fliegen.

Der kleine Papiervogel drehte seine Kreise über dem Kopf des Jungens. Dieser achtete nicht mehr auf den Kranich, sondern widmete sich wieder dem nächsten Blatt.

,,Ich will eine Schlange machen. Sie sind stark, weil ihr ganzer Körper aus Muskeln besteht. Ihre Augen sind Schlitze und manche von ihnen sind giftig. Schlangen gelten als verschlagen, hinterlistig und heimtückisch. Ich glaube nicht, dass du so bist. Du bist eine liebe Schlange, die nicht giftig ist und die niemandem was tut." Die letzten Worte richtete er an das fertige Papierschlagenabbild.
Auch dieser Figur pustete er auf den Körper und den Kopf, und die Papierschlange erwachte zischelnd zum Leben.

,,Geh!", rief der Junge, aber nicht, weil er böse war. Sondern weil er wollte, dass seine Papierschlange in Freiheit lebte. Er öffnete das Fenster und beide Papiertiere entflohen ins Freie.

Der Junge  ging zum Tisch, der von Papierblättern bedeckt war, zurück. Entkräftet sank er in sich zusammen.
Wieder richtete er seine Worte an niemanden bestimmtes. Er sagte Worte, weil er etwas sagen wollte, nicht, um jemanden etwas mitzuteilen.
Er sprach an alle Papierseelen, die er noch befreien würde, und er sprach zum Papier, das diese Papierseelen aufnehmen würde.

,,Ich hoffe, ihr findet, was ihr sucht. Ich weiß ja, dass ihr etwas oder jemanden sucht, aber ich konnte nichts finden. Vielleicht kann ich einen Wolf oder einen Hund machen, der kann euch helfen." Er trommelte mit seinen vom Papier zerschnittenen Fingern auf den Tisch. ,,Ich würde euch gern helfen. Aber sie sagen alle, ich bin zu klein, und ich bin besser darin, euch zu bauen. Soll ich euch helfen oder weitermachen wie immer?"

Keine Reaktion.

Der Junge schaute betrübt zu Boden. Er wollte doch nur, dass seine Papierseelen einmal mit ihm sprachen. Nur ein einziges Mal! Er fühlte sich einsam, wenn er mit seinem Papier sprach und niemand ihm antwortete.

Er atmete tief durch. Es hatte einen Grund, wieso er jeden Tag nach der Grundschule Papierseelen faltete. Schon seit er mit Papier in Berührung gekommen war, war er davon überzeugt, dass dieses Material besonders war.

Denn ebenso wie ein Blatt Papier entstammt eine Seele etwas Größerem.

Diesen Gedanken verfolgend setzte er sich wieder aufrecht hin. Seine Seelen, die darauf warteten, die Welt durch sein Papier zu betreten, würden warten, bis er fertig war. Seine Seelen und sein Papier waren genau gleich. Zerbrechlich, zart, erfüllt von Geheimnissen und trotz allem wunderschön.

Seine vernarbten Hände strichen über das Papier, das bald von Seelen bewohnt werden würde, während er mit leiser und liebevoller Stimme seinem Papier eine Seele zuschrieb.

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