Kapitel 1 - Auf Wiedersehen

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Kapitel 1 - Auf Wiedersehen

Die schwache Herbstsonne schob sich über die kargen Hügel, begleitet von feinen Nebelschwaden, die sich wie eine Decke über das Land legten.

Lyca saß in ihrer kleinen Kammer vor dem Fenster und beobachtete die ersten gedimmten Lichtstrahlen, die die umliegenden Felder in güldenes Licht tauchten. Die junge Frau stieß einen schweren Seufzer aus und beobachtete, wie sich ihr Atem zu einem kleinen Wölkchen formte und sich genauso schnell wieder verflüchtigte.

Man merkte nun fast mit jedem vergehenden Tag, wie die darauf folgenden Nächte kälter und kälter wurden. Obwohl der Winter noch in einiger Ferne stand, kündigte er sich trotzdem unerbittlich an. Wieder einmal hatte sie das Gefühl, dass der Sommer gerade Mal einen Herzschlag angedauert hatte. Sie hatten sich kaum aus dem eisigen Griff des letzten Winters befreit, da wurden die Tage auch schon wieder kürzer und der Wind schärfer. Und mit der Kälte kamen auch die Sorgen wieder. Fast die Hälfte ihrer Schafe waren im letzten Winter erfroren oder verhungert und die Herde hatte im Frühjahr kaum Zeit gehabt sich zu erholen.

Immerhin, dachte Lyca und hörte selbst in Gedanken den bitteren Unterton ihrer Stimme.Im nächsten Winter wird mein Vater einen Magen weniger durch zu füttern haben.

Sie hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als ein schroffes Klopfen an der Tür ertönte. Die Stimme ihres Vaters ertönte gedämpft auf der anderen Seite der Tür: "Lyca, aufstehen. Wir wollen los." Sie schloss die Augen und seufzte erneut. Aufstehen. Als ob sie in dieser Nacht hätte schlafen können. Sie hatte kaum ein Auge zugetan, wann immer sie sich ins Bett gelegt hatte, waren die Sorgen und Ängste unerbittlich über ihr zusammengeschlagen, sodass an Schlaf überhaupt nicht mehr zu denken gewesen war.

"Ja, ich komme." Sie bezweifelte dass er ihre gemurmelte Antwort gehört hatte, doch seine Schritte entfernten sich wieder von ihrer Tür. Hinter ihr hörte sie ein Rascheln und als sie den Kopf drehte, nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Die Worte ihres Vaters hatten auch ihre Schwester aufgeweckt. Sie setzte sich auf der dünnen Strohmatte, die ihr und ihren beiden Geschwistern als Bett diente, auf und schaute verschlafen zu ihrer großen Schwester hoch.

"Wohin gehst du?" Sie konnte sich das herzhafte Gähnen nicht verkneifen und fuhr sich durch das krause blonde Haar, nicht ohne mit ihren Fingern in den zahlreichen Knoten hängen zu bleiben. Die Leute sagten oft, dass Thiela aussah wie ein jüngerer Zwilling Lycas. Ihre Haare waren von einem hellen blond und ihre Augen stahlgrau. Sie hatten die gleichen kleinen Grübchen in den Mundwinkeln und beide bekamen die gleichen kleinen Fältchen auf der Stirn, wenn sie grübelten oder etwas nicht verstanden.

Ein schmerzlicher Ausdruck huschte über Lycas Gesicht.

"Darüber haben wir doch gesprochen, Thiela." Ihre Schwester ließ ihre Hände in den Schoß sinken und ihre Augen weiteten sich panisch.

"Aber...doch nicht heute?"

"Doch, heute." Es brach Lyca fast das Herz als sie sah, wie sich die Wolfsaugen ihrer kleinen Schwester mit dicken Tränen füllten. Diese Augen, die genau wie Lycas waren, aber trotzdem, zum Glück, ganz anders.

Schnell stand sie von dem kleinen Schemel auf, auf dem sie fast die ganze Nacht gesessen hatte. Sie fühlte sich steif und ihr unterer Rücken schmerzte, doch sie ließ sich trotzdem in einer fließenden Bewegung hinab gleiten und setzte sich neben ihre Schwester. Sofort schloss diese ihre Ärmchen um ihre Hüfte und vergrub das Gesicht an ihrer Brust. Lyca selbst blinzelte nun ebenfalls sehr hastig, während sie das Kinn auf Thielas Kopf ablegte. Deutliche Schauer durchliefen den kleinen Körper und Lyca wusste, dass sie schluchzte.

Purpur - Die MagierinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt