Wahrheit

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Semir wartete ungeduldig auf Ben.
Wo blieb er denn? Es ließ ihm keine Ruhe, dass er so spät war. Er sollte schon vor mindestens fünf Minuten bei ihm auf der Wache sein. Sie mussten beide noch ihren Aufsatz für die letzten Wochen zusammen fertig stellen. Hatte er das vergessen?
Und ein neuer Fall wartete auch auf sie. Ein Krimineller, aus dem Gefängnis ausgebrochen, musste wieder hinter Gitter. Das Übliche halt.
Man, wieso war er noch nicht da? War ihm etwa was passiert?
Ein schlechtes Gewissen breitete sich in ihm aus.
Es könnte sein, dass ihm jemand was getan hatte oder so.
Er war die letzten Tage so abwesend gewesen, so gar nicht bei der Sache.
Hatte das mit heute zu tun? Hatte er einfach einen wichtigen Termin, wovon er ihm nichts erzählt hatte? Oder steckte etwas ganz anderes dahinter?

Boof!
Semir trat die weiße Tür auf, die in Bens Wohnung führte.
Er hatte geklingelt, jedoch hatte niemand aufgemacht. Auch, als er seinen Freund gerufen hatte, dagegen geschlagen hatte, um auf sich aufmerksam zu machen, war nichts passiert. Er machte sich nun ernsthafte Sorgen. Was war los? Wieso war es bei ihm so still? Vorsichtshalber hatte er seine Pistole aus seinem Gürtel gezückt und schlich langsam und auf alles gefasst weiter. Er war bewaffnet. Er war bereit, sich bei der kleinsten Bewegung zu schützen, egal, was kommen mochte.
"Ben?" Er ließ den Spannhacken klicken, als keine Antwort erklang.
"Reg dich ab, hier ist keiner, auf den du schießen musst!"
Er stutze verblüfft und wandte sich dem Sofa zu, bei dem er diese für ihn so fremde Stimme gehört hatte. Sie war so teilnahmslos gewesen, so gar nicht voller Elan und Tatenkraft. Einfach erschöpft und müde, nicht mehr lebensfreudig "... Ben? ...."
Er ließ die Pistole sinken und ging auf den bewegungslosen, geknickten Haufen auf dem Sofa zu, der sein Partner sein sollte. "Da biste baff, was?"
Er musste sich zusammen reißen, um nicht erschrocken auf zu atmen, um ihn nicht mit offenem Mund anzustarren, als er schon von der Seite aus in sein Gesicht spähen konnte, in das coole, gelassene Gesicht, das ihm vertrauter denn je war, dass ihm jeden Tag zum Lachen oder wenigstens zum Grinsen gebracht hatte, dass er kannte, zumindest geglaubt hatte, zu kennen.
Ben sah wirklich zum Fürchten aus.
Seine Haut hing eingefallen an ihm herab, war lasch und blass. Er hatte an Gewicht verloren, was ihm einen noch bedrückenden, mitleiderregenden Anblick verschaffte.
Seine braunen Augen fixierten einen leeren Punkt in der Ferne, funkelten nicht mehr in diesem verschmitzen, frechen Glanz, den Semir an ihm so schätzte.
Seine lustigen Sprüche, seine lustige Präsenz - nichts mehr. Er war ein Schatten seiner selbst geworden. Vorbei mit der Freiheit und der Unbeschwertheit.
Er wollte was sagen, doch er brachte kein Wort über die Lippen, war zu geschockt.
"Soll ich dir mal erzählen, was ich Tolles erlebt hab?"
Semir musste schlucken. Was war um, Himmels Willen, mit ihm passiert? Wo war Ben? Wo war der entschlossene Polizist hin, der so gerne mit ihm die dümmsten Witze gerissen hatte? Wo war er?
Ben fing an mit seiner tolle Geschichte und er merkte gar nicht, wie er sich zu ihm setzte, realisierte nicht, wie er ihn mit aufgerissenen Augen anglotzte, als wäre er ihm zum ersten Mal begegnet, war eingefangen in einer fassungslosen Trance, aus der er sich nicht befreien konnte, auch, wenn er gewollt hätte.
"Ich war bei ihr. Weißt du, ich war jeden Tag bei ihr. Jeden verdammten Tag.
Wir ham gelacht, jeden Tag... Sie hat so eine einzigartige Lache, weißt du? Ich hab sie geküsst, wir ham gelacht, ich hab gewusst, dass sie die richtige ist. Ich hab's einfach von Anfang an gewusst. Ich hab's immer gewusst. Schon ab da an, wo ich sie getroffen hab, da, am Konzert, wo du nicht da warst, wo ich mit Jenny hin gegeangen bin. Ich war sofort sicher, kennst du das?" Seine Frage schien sich nicht auf Semir zu beziehen, mehr auf sich selbst. Er war so gebrochen, so in einer anderen irrealen Welt, in seiner Welt. "Wir ham so viel erlebt zusammen. Als ich ihr ihr Lieblingskleid an ihrem Geburtstag geschenkt hab, das sie sich gewünscht hat, als sie mir mit die Briefe von Amerika gegeben hat, dass die mich wirklich wollen, weil ich so gut singe, weil sie gewusst hat, dass ich mich freuen würde... Sie hat mir immer so gern zugehört, ich hab ihr versucht das Gitarren spielen bei zu bringen. Das war so lustig, sie konnte das gar nicht. Weißt du, sie ist nicht so musikalisch wie ich." Sein wehmütiges Lächeln verblasste schlagartig, als erinnere sich an eine grausamere Zeit in seinem Leben. "Als dann das mit ihrem Vater rauskam, da, da... da ist sie ja völlig durchgedreht. Ich bin dir hinterher in diesem Bergwerksgelände und du ihr und sie diesem fucking Arschloch, der... ", Wut, die er zu bändigen versuchte, zeigte sich in seinem faltigen Gesicht. "Nina, sie... ich, du... Du warst in dem Auto drin, Nina wollte ihn töten, sie hat nicht gewusst, dass du... dass du da mit drin lagst, sie konnte das nicht wissen. Ich hab's gesehen, ich hab's gesehen, weißt du? Und dann das mit dem Schuss, ich hab das wirklich gesehen. Ich wollte sie abhalten, ich wollte sie nicht...", seine heisere Stimme versagte. "Ich hab sie immer da gesehen, sie war bei mir... Naja, denk ich. Ich weiß ja nicht mal, ob sie mich überhaupt gesehen oder ob sie mich gehöhrt hat. Weißt du, ich, ich... ", Ben blinzelte rasch die Tränen weg, die ihm in die Augen schossen. Er wollte nicht weinen. Nicht wieder. Nicht in Semirs Anwesenheit. Sein Freund, der starke, impulsive Polizist, sollte kein Mitleid mit ihm haben. Er würde es bestimmt nicht verstehen.
"Diese, diese verdammte Schieße, wo sie mich nicht...", er rang verzweifelt nach Worten, "und ich ihr... da, wo du..."
"Du hast mich gerettet, Ben!", erwiderte Semir klar und wollte ihm tröstend den Arm um die Schulter legen, er wollte nicht länger ertragen, wie er sich mit Selbstvorwürfen quälte, das musste nicht sein. Das war es nicht wert.
Doch Ben wandte sich mit einem Ruck schniefend ab.
"Ich ha-hab sie...", schluchzte er zitternd. "Semir, i-ich hab sie..."
Semir ahnte unwohl, was er sagen wollte."Das hast du nic -"
"Ich hab sie umgebracht!", schnauzte er und fuhr zu ihm herum. "Man, das weißt du genau so gut wie ich. Ich hab sie umgebracht! Sag bloß, dass du das nicht mitbekommen hast. Ich hab sie an der Schulter getroffen, die Ärzte sind gekommen, aber... ", er stockte überraschend. Und dann brach er unweigerlich in Tränen aus. "Sie war einfach perfekt, weißt du? Einfach perfekt für mich. Ich hab... ich würde sie nie loslassen, hab ich gesagt. Nie mehr. Ich hab's ihr versprochen, ich hab's ihr wirklich versprochen, und sie hat's mir geglaubt. Sie hat mir immer geglaubt, sie hat mir vertraut, ich hab ihr vertraut. Wir... wir waren so glücklich zusammen... ich, wir, wir wollten noch ausräumen, ihre ganzen Sachen, die... die, noch hier liegen und jetzt... jetzt ist sie... Sie, sie ist...."
Semir fühlte sich hilflos. So schrecklich hilflos. Er saß neben ihm, hörte den Schmerz, der nicht mehr von ihm gehen würde, sah diese übergroße Schuld, die Ben zu schaffen machte, obwohl er keineswegs Schuld trug.
Eigentlich war ER eher der Schuldige. Wenn er nicht gewesen wäre, wenn er nicht alleine versucht hätte, Van Bergen mit dem Auto aufzuhalten, ihn zu crashen, wäre Ben nie in diesen verzwickten Schlamassel geraten. Er hätte frei sein können mit Nina, hätte seine kommende Zukunft mit ihr verbracht.
Und dass hatte er ihm nun alles kaputt gemacht.
Er stand abrupt auf, überwältigt von der Welle der unangenehmen, starken Gefühle, die ihn erdrücken wollte. Die Luft wurde ihm geradezu aus den Lungen gepresst, ihm wurde die gesamte Energie aus dem Körper gezogen. Schieße!
Er musste hier raus.
Er konnte hier nicht länger bleiben.
Als er Ben noch einmal sein Mitgefühl aussprechen wollte, als er ihn sanft anfasste, mit ihm die Trauer teilen wollte, schlug er ihm die Hand weg.
Er schien alleine klar zu kommen. Er brauchte seine Gesellschaft nicht.
Er wollte offenbar für sich bleiben, das mit sich regeln, ohne Freunde, niemanden dabei zur Last fallen. Aber das tat er nicht, wenn er Semir so mies zurück wies.
Mit einem letzten mitleidigen Blick auf ihn, wie er da schluchzte, wie er da heulte wie ein Kind, dass gerade seine Mutter veroren hatte, und sich die dünnen, zitternden Finger völlig fertig an die Stirn legte, und mit einem letzten sorgenvollen Seufzer wegen ihm verließ er schweren Herzens die Wohnung und fuhr mit seinem Dienstwagen davon.

Alarm für Cobra 11 - Verheerender TodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt