Sterben?

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Jeden Tag wachte er auf, schweißgebadet und so hart hoffend, dass sie noch nicht tot war, jeden verdammten Tag fuhr er ins Krankenhaus, zu ihr, um bei ihr zu sein, seine Schmerzen und die Schuldgefühle, so glaubte er, damit wenigstens ein klein wenig zu lindern. Jede Nacht verfolgten ihn die Albräume, jedes Mal sah er sie in ihrem Krankenbett sterben, schreckte hoch und schrie und weinte, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihm her.
Selbst bei der Arbeit auf der Wache konnte er nicht mehr aufhören, an sie zu denken. Er war nicht bei der Sache, schrieb Berichte und Protokolle falsch auf, oder machte einfach gar nichts, saß mit leerem Blick in seinem Stuhl und starrte auf die eine Stelle. Er merkte genau, dass die anderen, Jenny, Frau Krüger, Dieter, Susanne und Semir, ihm mit Sorge begegneten, ihn fragten, ob mit ihm alles okay wäre, und er nur abwesend mit dem Kopf nickte, oder sie erst gar nicht verstand.
Es war ihm egal, ob er ihnen die Wahrheit sagte oder nicht, es spielte keine Rolle. Nina war die Einzige, die gerade für ihn zählte, um die er sich sorgen musste.
Stundenlang weilte er vor ihrem Bett, hielt ihre kalte Hand, an der Schläusche zu einem mechanischen Gerät liefen, das piepsend Puls- und Herzschlag von ihr angab, küsste sie, strich ihr liebevoll übers Gesicht und über ihre Haare, wünschte sich, dass sie ihre schönen braunen Augen öffnete und ihn anlächeln, anlachen würde. Er wollte ihre Stimme hören, die er so sehr vermisste
Weitere lange Rohre nahmen ihr ständig Blut ab.
Es floss rot durch das blaue Plastik, und erinnerte Ben schmerzlich an die starke Schussverletzung an der Schulter, die er ihr beigebracht hatte.
So viel Blut...
Seine Kollegen versuchten ihn mit aller Mühe zu trösten, ihm gut zu zusprechen, dass Nina bald wieder gesund würde, dass sie es ganz bestimmt schaffte. Semir brachte ihm Kaffee, den Susanne für ihn kochte, stand bei ihm, umarmte ihn immer und immer wieder. Auch Hartmund verließ die KTU, klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken, versprach ihm sanft, dass es irgendwann vorbei sei.
Ben fand es rührend, doch er konnte es einfach nicht abhaben, wollte in Ruhe gelassen werden, mit seiner Schuld und dass, wenn Nina tatsächlich sterben würde, er es sich niemals verzeihen würde.
Er hatte schon mit dem Gedanken gespielt, kein Polizist mehr zu sein, seinen Job aufzugeben, um nur noch bei ihr zu sein, bei der Frau zu sein, die er über alles liebte.
Er könnte nicht mehr ohne sie leben. Er wusste das. Er konnte das nicht.
Jeden Nachmittag, wenn sein Dienst vorbei war, schleppte er sich müde in seine Wohnung, dachte viel und erschöpft über Dinge nach, über die er eigentlich nie nach dachte.
Und dann, eines Abends, als er wieder mal kraftlos nach Hause ankam, und sich zum zehnten Mal fragte, ob sein Leben überhaupt noch einen klaren Sinn hatte, kam der Anruf, der alles auf einen Schlag komplett veränderte.

Er rannte. Er rannte durch die vielen weißen Gänge, übersah die Menschen, die ihm entgegenkamen und ihn verwirrt oder aufgebracht nach glotzten, war blind für seine volle Umgebung. Er musste zu diesem einen Zimmer, wo ihn jemand Bestimmes brauchte, das war lebenswichtig, keiner konnte ihn aufhalten. Keiner würde ihn aufhalten.
Mit dem Handy in der Hand, wo ihn das Krankenhaus hektisch angerufen hatte, stürmte er querfeldein über den makellosen Boden, dachte nicht daran anzuklopfen, als er die Tür 38 erreichte, schlug sie auf und... Nina.
Er konnte sie nicht sehen, mehrere Ärzte und Ärztinen standen in ihrer Ausrüstung um ihr Bett drum herum.
Er beachtete sie nicht, schob sich grob an ihnen vorbei, obwohl er das nicht hätte tun dürfen.
"Äh, 'tschuldigung... Hat sie hier jemand rein geschickt? "
"Das ist ein Arbeitszimmer, werter Herr, also -"
"Herr Jäger, was machen Sie hier?"
Höller, Ninas persönlicher Doktor, der ihr und ihm die ganze Zeit zur Seite gestanden hatte, trat mit seinem blauen Mundschutz und dem weißen Kittel auf ihn zu, sagte etwas zu ihm, forderte ihn bestimmt auf, hier zu verschwinden, was aber nicht zu ihm durchdrang. Seine Stimme war zu weit weg, zu undeutlich, um sie richtig zu verstehen. Und sowieso hatte er nur Augen für seine Freundin.
Sie lag wie immer da, mit ihrer wunderbaren Erscheinung, wie jedes Mal, wenn er bei ihr zu Besuch war, und den hässlichen Bändern, die ihr die Krankenleute angelegt hatten, damit sie am Leben blieb. Doch jetzt, Ben war erschrocken und ihm waren unfreiwillig die Tränen gekommen, war ihr Gesicht so bleich und ausdruckslos, als wäre sie ein Geist, als wären sie schon tot. Sie schien kaum zu atmen, ihre Brust hob und senkte sich unregelmäßig und träge, ihrem Mund entflohen grässliche Huster und Röchelgeräusche, sodass ihr Krankenbett unter ihr knackte.
Er streckte zitternd die Finger aus und fasste nach ihrem Arm, der sich taub und heiß zugleich anfühlte, umfasste ihre Brust, ließ sich auf die Knie sinken, als ihn starke Hände griffen, ihn wieder hochzogen, und ihn von ihr fortziehen wollten, realisierte nicht mal, dass er anfing zu weinen, zu schreien, wehrte sich mit der Kraft der Verzweiflung,  konnte nicht weg von ihr, konnte sie einfach nicht los lassen.
Jemand redete ihm gut zu, doch er nahm es auf, als würde sie oder er unter Wasser mit ihm kommunizieren, schlug um sich, kratzte, biss. Er wollte sie nicht verlassen, er wollte sie nicht aufgeben. Niemals.
Sie mussten ihn mit fünf Männern raus tragen, ihn rausschleppen, mit Mühe.
Er hämmerte gegen die verschlossene Tür, heulte, was sie doch alle für Arschlöcher wären, dass sie ihn gefälligst wieder rein lassen sollten, machte wütend und traurig Randale auf dem Gang, sodass die Kunden dort allesamt, empört über diese Störung, gingen.
Was war mit Nina?
Was machten sie mit ihr?
Ließen sie sie sterben?
War sie denn schon...?
Er hielt es nicht aus. Er hatte keinerlei Antwort auf seine Fragen, und er durfte noch nicht mal bei ihr sein.
Irgendwann, als er sich beruhigt hatte, und das dauerte lange, konnte er nur noch weinen, nichts als weinen und bangen, dass sie nicht starb, dass sie es überlebte. 






Alarm für Cobra 11 - Verheerender TodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt