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Meine Finger jucken. Wahrscheinlich hat einer der Kleineren schon wieder etwas angefasst, das sie nicht anfassen sollen. Die wissen doch, wie sehr ich das hasse! Ich drehe meinen Daumen schnell dreimal gegen den Uhrzeigersinn, schnipse einmal langsam mit der linken Hand und rümpfe die Nase. Das Jucken verstummt. Endlich! Erleichtert atme ich auf und blicke mich um.

Wo haben mich die Kleinen jetzt schon wieder hingebracht? Und warum haben sie mich so lange nicht mehr ans Ruder gelassen? In der Zwischenzeit sollten sie doch wissen, dass sie ohne mich keine Chance haben, sich zu wehren! Bin ich in Ordnung? Sind wir in Ordnung? Ängstlich blicke ich in mich hinein. Ich sehe Anna, Marion, Lena, Kim und Erna. Gut, alle noch da! Unser Körper scheint auch in Ordnung zu sein. Zumindest hat Marion keine Schläge kassiert, das ist gut. Wirklich sonderbar, ich kann wirklich keine Stelle ausmachen, die schmerzt. Das gabs noch nie. Vorsichtig blinzle ich, achte aber darauf meinen Atem betont ruhig zu halten. Ich liege in einem kleinen Zimmer. Es ist dunkel, mir gegenüber ist ein Fenster. Soll ich es riskieren hinauszuschauen? Vielleicht könnte ich sogar hinausklettern und uns in Sicherheit bringen. So habe ich das auch das letzte Mal gemacht, als ich die Kontrolle hatte. Ich stellte mich ohnmächtig, bis sie sich sicher fühlten und mich kurz alleine ließen. Dann zwängte ich mich durch das Fenster und rannte. Keine Ahnung, was die anderen daraus gemacht haben. Irgendeiner hat mich verdrängt, aber bisher hat sich noch keiner dazu bekannt.

Bin ich alleine hier? Langsam atme ich aus. Vor dem nächsten Atemzug lege ich eine Pause ein, die zu kurz ist, um als auffällig wahrgenommen zu werden, aber lange genug, um mir die Möglichkeit zu geben, zu lauschen. Ich wiederhole diesen Vorgang vier Male. Erst dann bin ich mir sicher, alleine zu sein. Ich bin der einzige hier, zumindest der einzige, der atmet. Ich höre eine Straße, die vor dem Fenster vorbeiläuft, ich höre den Wind, der draußen weht, und irgendwo hier in diesem Zimmer höre ich eine Uhr ticken. Doch ich höre kein Atmen. Das ist gut, das ist sehr gut.

Ich öffne nun die Augen etwas weiter um mich zu orientieren. Gegenüber des Betts, auf dem ich liege, ist ein Schreibtisch, auf dem sich Mappen, Ordner und Bücher stapeln. Unter dem Fenster steht ein kleines Bücherregal, das aus allen Nähten zu reißen scheint. Auch einen Schrank kann ich aus dem Augenwinkel ausmachen. Zwei der vier Zimmerecken scheinen sauber zu sein, die anderen kann ich von hier aus nicht erkennen. Am liebsten würde ich laut fluchen. Ich sagen den Kleinen immer, dass sie versuchen sollen, auf dem Rücken zu schlafen, aber natürlich hört niemand auf mich. Die werden wohl erst auf mich hören, wenn sie dafür gesorgt haben, dass wir alle draufgehen!

Die nächsten Minuten liege ich nur da und zähle. Die Kameras, die sie verwenden, blinken alle 23 Sekunden rot auf. Es ist nicht wirklich auffällig und nicht wirklich hell, aber mit etwas Übung könnte ich das überall wiedererkennen. Und hier erkenne ich es eindeutig nicht. Hier sind keine Kameras. Entweder sie überschätzen sich oder sie unterschätzen mich. Oder ich bin nicht mehr bei ihnen.

Alleine der Gedanke bringt mein Herz zum rasen. Ruhig bleiben! Mach dir gar nicht erst Hoffnungen. Die Kleinen sind zu schwach um eine Flucht durchzustehen, du willst dir doch nicht wirklich einreden, dass sie deine Chance genutzt haben. Marion wäre die einzige, die das vielleicht geschafft hätte. Und selbst wenn sie gerade die Kontrolle hatte: Draußen hat es geschneit und es hatte sicher fünf Grad unter Null. Niemand hält das besonders lange durch, selbst dann nicht, wenn wir unverletzt und nicht mangelernährt wären. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir frei sind, liegt bei Null.

Immer noch stelle ich mich schlafend, nur für den Fall der Fälle. Ich drehe mich auf den Rücken und strample langsam die Decke weg. Hoffentlich sehe ich immer noch aus, als würde ich schlafen. Als die Decke weg ist, fällt mir auf, dass ich angezogen bin. Auch das ist neu.

Jetzt halte ich inne. Ich lausche und warte. Warte darauf, dass sich draußen etwas tut, dass sie irgendwas verändert. Doch immer noch bleibt alles gleich. Alles ist ruhig, alles scheint zu schlafen. Wie kann das sein? Warum ist noch niemand hier? Seit ich denken kann, war das so! Bin ich denn frei? Sind wir frei? Es gibt nur einen Weg um das herauszufinden. Ich muss aufstehen. Aufstehen und zur Tür und dann raus durch die Tür. Wenn ich frei bin, wird mich niemand abhalten.

Schnell schwinge ich mich aus dem Bett. Sofort erstarre ich wieder. Ändert sich etwas um mich herum? Irgendwas? Ich spüre nichts, höre nichts, sehe nichts. Alles bleibt gleich. Warum bleibt alles gleich? Das macht mich nervös. Was, wenn das nur ein Test ist? Dann wird gleich irgendjemand da sein, um uns zu bestrafen. In solchen Tests war ich noch nie gut – Lena ist gut darin. Die hat nämlich einfach zu viel Angst um irgendwas zu tun, dass ihnen nicht gefallen würde.

Immer noch ist alles wie zuvor auch. Geduckt schleiche ich zur Tür. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich lege die Hand auf die kalte Türklinke. Bevor ich auch nur eine Sekunde zögern kann, drücke ich sie hinunter. Die Tür schwingt auf. Eine ältere Frau blickt mich an. Sie muss vor der Tür gestanden sein, sie muss hier gewartet haben. Ist sie eine von ihnen? Ich habe sie noch nie gesehen.

„Erna?" Ihre Stimme klingt brüchig und ihre Augen haben einen seltsamen Ausdruck, den ich nicht kenne. „Geh zurück ins Bett, Liebling!", seufzt sie schwach, „Ich wollte dich nicht aufwecken, hörst du? Ich wollte nur nachsehen, ob du..." Sie blickt weg. „Ob du noch da bist...", nuschelt sie.

Wir sind frei, das weiß ich jetzt. Ich kenne die Frau nicht, aber Erna kennt sie dafür umso besser. Es ist ihre Mutter.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 14, 2018 ⏰

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