Still und regungslos stand sie vor dem Spiegel. Betrachtete ihre Augen, als hätte sie sie noch nie wahrgenommen. Unfähig, sich zu regen blickte sie starr ihrem Spiegelbild in die Augen. Gold. Alles was sie sah, war ein leuchtendes Gold, so klar und flüssig, als wäre es echt.Saya hatte nie einen Spiegel besessen. Zwischen all den Sorgen, die sie plagten, war dieses Bedürfnis einfach untergegangen. Und wenn sie dann doch einmal in eine der Wasserpfützen geblickt hatte, dann starrten ihr nur ein verdrecktes Gesicht, verfilzte schwarze Haare und dunkle Augen entgegen. Sie hatte ihre Augen nie genauer betrachtet und noch nie im Licht der Sonne.
Wenn sie sich grob mit dem Wasser aus einem der Tümpel gewaschen hatte, dann war es dunkle Nacht gewesen, ihre Pupillen geweitet, sodass man die Farbe nicht erkennen hätte können, selbst wenn man sich Mühe gegeben hätte. Nie hatte sie ihre Augenfarbe interessiert, doch jetzt, ihr Herr war nicht hier, hatte sie in dem Raum einen Spiegel gefunden und nicht widerstehen können.
Sie sah so ganz anders aus als früher. Ihre Haare waren zwar nicht länger verfilzt, jedoch um einige Zentimeter gewachsen, sodass sie ihr bis zur Brust reichten. Ihre Wange zierte ein langer Schnitt, den ihr Herr ihr mit dem Brotmesser zugefügt hatte, als sie das Essen nicht rechtzeitig aufgetragen hatte, weil die Köchin länger brauchte. Das rechte Auge wurde von einem mittlerweile verblasstem, aber dennoch sichtbaren blauen Fleck geziert und am Haaransatz war die kleine Platzwunde, die sie sich zugezogen hatte, als die Eingangstüre gegen ihre Schläfe geknallt war. Ihre Wangen waren eingefallen und ihre komplette Erscheinung ließ nichts mehr von dem stolzen Mädchen erahnen, welches sie einst gewesen war.
Saya wandte ihren Blick vom Spiegel ab und wischte pflichtschuldig einige Male darüber. Aufräumen sollte sie hier, nicht träumen. Langsam stieß sie die Luft aus und machte sich daran, die zahlreichen Papiere, die auf dem Boden lagen, aufzuheben und auf der Schreibtischplatte zu stapeln.
Ihr Ellenbogen stieß gegen die Lampe, die mehrmals schwankte und dann mit einem gefährlichem Klirren auf dem Boden aufkam, bevor Saya sie abfangen konnte. Entsetzt bückte sie sich danach, obwohl sie wusste, dass die Lampe kaputt war. Bilder der schrecklichsten Bestrafungen jagten durch ihren Kopf und ließen sie aufkeuchen.
Erschrocken fuhr sie herum, als sich die Tür hinter ihr öffnete und ihr Herr sich in Sayas Blickfeld schob. Er ging gebückt, auf seinen Gehstock gestützt. „Komm!", hustete er, drehte sich um und verließ den Raum wieder, ohne etwas zu der zerbrochenen Lampe zu sagen.
Saya folgte ihm vor Anspannung zitternd. „Ich habe meinen Neffen heute Abend zu Besuch. Du wirst uns zu Trinken und zu Essen bringen und dich dann wieder verziehen, damit er sich nicht von deiner Anwesenheit gestört fühlt."
„Ja, Herr.", sagte Saya stockend. Ihr war der herabwürdigende Tonfall ihres Herrn nicht entgangen, mit dem er sie immer ansprach. „Du wirst dir etwas anderes anziehen und dein Schandmal halten. Bin ich unzufrieden, dann blüht dir schlimmeres, als die paar Peitschenhiebe, merk dir das!" Sayas Gedanken waren Horrorvisionen dessen, was geschehen konnte. Würde sich der Neffe des Herrn auch an ihr vergehen? Einfach zum Spaß?
„Was stehst du hier noch rum, geh an die Arbeit!", brüllte der alte Mann sie an und wurde gleich darauf von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. „Kahba.", zischte er einmal mehr und verschwand keuchend um die Ecke. Saya war wieder froh, dass sie die arabische Sprache nicht beherrschte, denn so entgingen ihr die zahlreichen Beleidigungen, mit denen er sie zweifellos täglich bedachte.
Voller Angst huschte Saya zurück in das Zimmer und sammelte die Scherben der Lampe auf, um sie in den Müll zu werfen. Anschließend stolperte sie in das kleine Zimmer, das sich Tayo und sie teilten und tauchte ihre blutigen, von unzähligen kleinen Schnitten überdächten Hände in den Eimer sauberes Wasser, der hier stand. Fast augenblicklich färbte sich das wenige Wasser rötlich und Saya wickelte sich Leinen um beide Hände, damit kein Schmutz in die Wunden drang.
Dann schälte sie sich aus dem Kleid, das eigentlich nur aus einem grauen Tuch bestand, dass man sich um den Körper wickelte und mit einer Holzschnalle feststeckte. Die Frauen hier trugen fast alle schwarze, weite Kleider und Tücher, die ihr Gesicht bis auf die Augen vollständig bedeckten. Saya waren sie noch immer nicht geheuer und sie verstand nicht, wie es die Frauen darin aushielten. Es musste unglaublich heiß sein in der stechenden Sonne und noch dazu konnten sie nicht einmal richtig Atmen.
Daher war sie fast froh, dass sie andere Kleidung tragen musste, die sie gesellschaftlich als Sklavin auswies. Saya presste die Lippen aufeinander, als der prickelnde Schmerz durch ihre Hände strömte, als sie mit diesen die Schnalle an dem anderen Tuch befestigte, das einst grün gewesen war. Die Farbe war jedoch im Laufe der Jahre, die es zweifellos bereits hinter sich hatte, ausgeblichen.
Saya kämmte mit ihren Fingern ihre Haare und flocht sie zu einem kurzen, provisorischen Zopf, damit die Haare ihr nicht im Weg waren. Dann strich sie den Stoff glatt und verließ das Zimmer. Die Sonne neigte sich immer mehr dem Horizont entgegen und als sie unten eine zweite Stimme hörte, die ihr fremd war, wusste sie, dass sie es nun nicht mehr länger hinauszögern konnte. Zögerlich trat sie aus dem Raum und machte sich auf den Weg in die Küche, nachdem sie sich vergewissert hatte, das Tayo den Esstisch bereits gedeckt hatte.
„Bring das." Mit diesen Worten drückte ihr die zierliche, bereits ältere Köchin das hummus bi tahini in die Hand, dazu einen Teller mit Weizenfladen, welchen ihr Herr gerne zum Kichererbsenpüree aß. Der würzige Duft der Speise stieg ihr in die Nase und ließ ihren Magen laut knurren.
Schon das erste Gericht heute Abend überstieg das kümmerliche Essen, welches Tayo und sie täglich bekamen, um Vieles. Tief durchatmend trat Saya durch die Tür zum Esszimmer und senkte ihren Blick gen Boden. Stolper jetzt bloß nicht, wies sie sich innerlich zurecht und setzte verbissen einen Schritt vor den anderen, ohne aufzublicken.
Am Tisch angekommen stellte sie die Schüssel und den Teller ab und wandte sich um, um zu gehen. „Ama! Wo sind die Getränke?!", donnerte ihr Herr mit für seinen Zustand erstaunlich kräftiger Stimme. Dann sagte er etwas auf Arabisch zu seinem Besuch, woraufhin dieser etwas entgegnete. Sie spürte die Blicke beider Männer in ihrem Rücken, als sie auf den Schrank zusteuerte, in dem ihr Herr seine Getränke für besondere Anlässe aufbewahrte und traute sich nicht, aufzublicken. Sie holte eine Flasche des araqi, ein schwarzgebrannter Dattelschnaps hervor und füllte ihn wie gewohnt in die undurchsichtigen Gläser, denn ihr Herr pflegte auch an normalen Tag ein- oder mehrere Gläschen zu trinken.
Erst vor kurzem hatte sie von Tayo erfahren, dass Alkohol hier verboten war und mit vierzig Peitschenhieben geahndet wurde. Es hatte offenbar mit der hier vorherrschenden Religion zu tun, deren Gott Alkohol wohl verbot. Daher trank ihr Herr nur aus den undurchsichtigen Gläsern, weil er glaubte, dass sein Gott sein Vergehen dann nicht merkte.
Mit zwei Gläsern kehrte sie an den Tisch zurück und stellte zusätzlich einen edlen Krug mit Wasser auf den Tisch. Plötzlich spürte sie eine hauchzarte Berührung an ihrer Hüfte. Erschrocken blickte sie an sich hinab, konnte jedoch nichts erkennen. Ich muss es mir eingebildet haben, dachte Saya sich und eilte schnell wieder in die Küche, um dem stechenden Blick ihres Herrn zu entgehen.
Eines beschäftigte sie jedoch: Im Vorbeilaufen hatte sie einen Blick auf ein Stück des dunkelblauen Turbans, den der Fremde trug, erhaschen können. Wo hatte sie einen solchen bloß einmal gesehen? War es in der Stadt gewesen? Auf der Straße?
Auf einmal wusste sie es wieder und das Blut gefror ihr trotz der hohen Temperaturen in den Adern. Er war auf der Sklavenversteigerung gewesen!
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Rain
Action~ Die Kunst des Lebens ist es, im Regen zu tanzen, statt auf die Sonne zu warten, vergiss das nie, Kleine ~ Saya ist eines der vielen philippinischen Straßenkinder. Nachdem ihr Bruder ermordet wird, verliert sie ihre letzte Bezugsperson und versucht...