Stunde Null

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Egal wohin er sah, sie sahen ihn.
Mit diesem Gedanken lief Gillian Cortland durch die Flure des grauen Hauptgebäudes. Es soll einmal bunt gewesen sein, so sagte man. Vor einer langen, langen Zeit, noch bevor die moderne Zeitrechnung angefangen hatte. Im Jahre 7362 n.U. waren die Wände jedoch grell und farblos. Den einzigen Kontrast bildeten die vielen Schulwappen - eine große, runde Kröte mit mechanischen Augen -, die in einem Abstand von fünf Atometern platziert worden waren; jede Kröte ausgestattet mit einem eigenen Paar Kameras, die einst intelligente Menschen speziell für diesen Ort entwickelt hatten. Zu solch intelligenten Menschen sollten Gillian und seine Mitschüler auch werden, wenn sie diesen Ort verlassen würden. Das war das Ziel für das sie seit vielen Jahren ausgebildet worden waren. Sie sollten entwickeln und führen, mit Bedacht handeln und Feinde ausschalten. Nur so konnte die gute, gesunde Gesellschaft gewahrt werden - dafür lebten sie.
Und für Regina, die Leiterin des Systems. Sie war das Auge hinter jeder krötigen Kamera, das Ohr hinter jedem Mikrofon und die Stimme hinter jedem Lautsprecher. Ohne ihre Leitung war alles nichts. Gillian sah auf seine Uhr. Er war fast zu spät.
Die Kaulquappen trafen sich einmal die Woche zu einer Besprechung im Sinne der fünf Stufen.
Fünf Stufen, die ein jeder Schüler bis zum Abschluss durchlaufen haben musste, beginnend mit der Initiation. Die Initiation war ein, von der Obrigkeit geführtes, Aufnahmeverfahren und gleichzeitig eine Qualitätsprüfung des Nachwuchs. Es wurde entschieden in welches der vier Profile ein Schüler am besten passte - und in welchem Umfeld er am schnellsten lernte. Die Umwandlung war ein längerer Prozess, basierend auf den Ergebnissen der Initiation. Die Schüler bekamen die Chance zu wählen und sich augenscheinlich frei zu entscheiden, mit der helfenden Hand Reginas auf dem Rücken. Jeder einzelne sollte individuell gefördert werden und sich letztlich vollkommen dem jeweiligen Profil zugehörig fühlen. Als Ausbau dessen folgte die Festigung, bei der zuvor Geprägtes verinnerlicht werden sollte. Die Ideale und Werte Reginas mussten vermittelt, gelebt und weitergegeben werden - endgültig und unwiderruflich. Häufig galt die Festigung daher als Basis für einen idealen Menschen der zukünftigen Welt. Veredelung und schließlich die Vollendung bildeten somit das Ende der Prägung. In diesen beiden letzten Stufen wurde der bereits passabel angepasste Schüler weiter zu einem treuen Anhänger des Systems geschliffen, mit der Chance auf eine erfolgreiche Zukunft und die Zuneigung Reginas höchstpersönlich.
Jeder Schüler wollte die fünfte Stufe erreichen, so auch Gillian. Auszeichnungen warteten auf jeden, der sie erreichte - und nie enden wollende Zuneigung.

Wo man liebt, wird man geliebt., dachte er.
Und er liebte Regina sowie alles wofür sie stand.

Sie hatte diesen Leitspruch wohl aus diesem Grund gewählt. Nun jedoch befand er sich in der vierten Stufe, Veredelung, als er durch die breite Tür des Konkludentsraumes trat.
Vor ihm stand ein großer Konferenztisch in der Form eines Krötenkopfes und um diesen herum drei Stühle - einen für jeden von ihnen.
Die Kaulquappen waren die rechte Hand Reginas und der Vorstand der Schülerschaft. Noch waren sie klein und unbedeutend, doch sie würden eines Tages zu mächtigen Kröten aufsteigen - zumindest wurde ihnen das versprochen. Es war Ehre und Geschenk zugleich. Denn Regina verlangte den Kontakt zur Schülerschaft, um sie zu schützen und zu formen, so wie eine Skulptur aus einem Klumpen Ton. Allein war dies nicht möglich, der Klumpen bleibt einfach ein Klumpen.
Das durfte nie passieren, unter keinen Umständen. Es wurden bloß die vielversprechendsten Schüler ab der Veredelung zu Kaulquappen : wortgewandt, diplomatisch, visionär. Konsequent, idealistisch, systemtreu. So wie Gillian.

Nerés und Cora saßen bereits auf ihren Stühlen links von Gillians.

"Tag, Genosse.", sagte Nerés euphorisch und lächelte.

Er lächelte meistens. Er war einer der treuesten - wenn nicht der Treueste - Schüler unter Reginas Führung. Er merkte nicht, was daran falsch war - und Gillian tat es auch nicht.

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