Im Netz der Spinne

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Das Magistrat war in der Mitte des Gebäudes - schwer zu erreichen und schwer zu verlassen. An den Wänden hingen bunte Bilder fremder Orte, die Gillian nie zuvor gesehen hatte und womöglich niemals sehen würde. Es war für gute Schüler nicht vorgesehen das Gebiet zu verlassen - zu gefährlich war die Welt außerhalb von Reginas Schutz. Offiziell stand es jedem frei zu gehen, jedoch ausschließlich mit einer Genehmigung. Und wenn Regina jemanden beseitigen musste, dann bekam dieser schneller eine Genehmigung als andere - ohne Aussicht auf Wiederkehr. Er kannte zwar die Geschichten, die im Unterricht erzählt wurden, doch in ihnen ging es nie gut für die Geflohenen aus. Es empfahl sich also eher still zu sein und sich dem System anzupassen. Wyatt hatte nie viel davon gehalten. Die Wände hinter den Bildern waren in einem unangenehmen Beigeton gestrichen und unterschieden sich stark von den restlichen Wänden des Gebäudes. Das war wohl Reginas persönliche Vorstellung von Stilbewusstsein. Es hätte Gillian nicht gewundert, wenn Nerés und Cora plötzlich nur noch in Beigetönen gekleidet gewesen wären. Ihm wurde wieder übel. Das konnte an dem Gedanken an die Kaulquappen oder aber an dem künstlich erzeugten Lavendelgeruch liegen, der das gesamte Magistrat umhüllte. Im Sinnesunterricht während der Umwandlung hatten alle Schüler exotische Gerüche kennengelernt, die es in der Schule nicht gab. Lavendel war schon damals Reginas Lieblingsduft gewesen. Gillian hingegen hatte den vermoderten Geruch nie leiden können. Das sagte er aber nicht. Er atmete also durch den Mund und blickte erwartungsvoll auf den Schreibtischstuhl vor ihm. Von der Person darin war nichts zu erkennen - mit Ausnahme von einer schmalen, beringten Hand, die geschmeidig einen Füller über Papier gleiten ließ. Ihre Nägel waren gefährlich spitz und rot lackiert, so wie das Blut, das an ihren Händen klebte. Gillian versuchte verzweifelt an etwas schönes zu denken, doch ihm fiel nichts ein. Er verbrachte zu viel Zeit an diesem Ort. Wann hatte er seine Eltern das letzte Mal länger als zehn Minuten gesehen ? Er wusste es nicht mehr. Regina hatte noch vor seinem Beginn an der Schule angeordnet, dass Schülerinnen und Schüler in der Schule essen mussten, um eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Der Unterricht begann vor Sonnenaufgang und endete häufig erst nachdem sie wieder untergegegangen war. Zusätlich dazu kamen Feste, Kaulquappen-Treffen und Projekte. Ihn hatte das zuvor nie gestört. Es war selbstverständlich gewesen. Schließlich konnte man nur ein ehrenwertes Mitglied der guten Gesellschaft werden, wenn man diese auch aktiv unterstützte. Mit Wyatts Tod hatte sich seine Einstellung dazu geändert. Und er hatte das ununterdrückbare Bedürfniss zu rennen.

Regina legte den Füller beiseite, drehte sich mit dem Stuhl und sah ihn einen kurzen Moment lang erwartungsvoll an. Dann - so als wäre ihr eingefallen, dass sie ihn herzitiert hatte - lächelte sie. Das Lächeln erreichte ihre Augen nicht, genauso wenig wie das von Gillian. Ihre beinahe weißen Haare waren wie gewohnt zu einem strengen Dutt hochgesteckt; ihre bunten Kleider wirkten willkürlich gewählt. Dabei war nichts an ihr willkürlich, weder die Schuhe mit Fleckenmuster noch die glänzende Haarspange. Alles an Reginas Auftreten stach heraus neben den eintönigen Wänden und Möbeln.

"Ihr wolltet mich sprechen ?", fragte er ruhig und wartete auf eine Antwort.

"Setze dich doch", erwiderte sie schlicht und machte eine ausschweifende Geste auf die beiden gepolsterten Stühle vor sich.

Besser nicht, dachter er und setzte sich.

"Möchtest du einen Knusperchen oder einen Tee ?", ihre Stimme war sanft und ruhig.

"Nein, danke", es war besser, wenn er sich nicht ablenken ließe.

"Bist du dir sicher ?", sie sah ihn eindringlich an.

Und er hasste sich dafür - aber er griff zögernd nach einem Plätzchen. Er würde es nicht essen, aber er konnte auch nicht nein sagen, wenn Regina ihm etwas anbot. Das gehörte sich nicht. Es gehörte sich auch nicht Schülerinnen zu ermorden. Gillian ballte seine Hand in der Tasche zu Fäusten und zerbröselte das Plätzchen. Das hier würde ihn mehr Kraft kosten als erwartet.

"Ich habe dich heute herbestellt, weil ich mich mit dir über die plötzliche Abreise von Wyatt unterhalten möchte. Ihr wart doch Freunde, oder nicht?"

Sie besaß die tatsächliche Dreistigkeit mit ihm über Wyatt zu reden, so als würde sie einfach Urlaub machen.

Ganz ruhig, sagte er sich selbst. Er war nicht gut darin.

"Wir kannten uns, ja", erwiderte er teilnahmslos.

"Wusstest du, was sie vorhatte an jenem Abend ?"

"Nein, wir haben nicht darüber gesprochen. Sie wusste von meiner Treue zu Euch."

Lüge, Lüge, Lüge. 

"Und das war wahrscheinlich auch der Grund für eure Freundschaft, mein lieber Gillian", ihre Miene zeigte sowas wie Mitleid, "es war ihr ein Leichtes über dich an mich zu gelangen."

Er zuckte mit den Schultern. Nein, so war es nicht gewesen. Er wusste ganz genau von Wyatts Agenda und trotz seiner Treue zu Regina waren sie Freunde gewesen. Nicht, weil sie ihn benutzt  hatte oder er sie verraten wollte. Sondern weil sie lustig und wild war und sagte, was sie dachte. Eigenschaften, die er vor einer langen Zeit auch mal besessen und die Regina ihm genommen hatte. Die Zeit mit Wyatt erinnerte ihn an eine Zeit vor der Gehirnwäsche der Obrigkeit. Es war einfacher gewesen als die ständigen Diskussionen mit Cora und Nerés und die ewigen Überwachungsaufgaben der Kaulquappen. Er hatte das alles satt.

"Es ist in unser aller Interesse, wenn du demnächst etwas besser darauf aufpasst, wem du deine Zeit schenkst."

"Ich denke nicht, dass das erneut passieren wird."

"Nun ja, die Welt ist voller schlechter Menschen, Gillian."

Fast hätte er laut aufgelacht.  Glaubte sie wirklich, was sie da sagte?

"Und du musst bedenken, dass du eine wichtige Position inne hast. Das macht dich zum Ziel für Rebellen, so wie mich. Aber sei unbesorgt, ich werde nicht zulassen, dass du erneut einer solchen Gefahr ausgesetzt bist - im Zuge dessen werden wir dich nun stärker beschützen müssen als üblich."

Regina lächelte ihr übliches Katzenlächeln, das in Wahrheit eine Verwünschung war. Sie beobachteten ihn genau. Er hoffte, dass seine Miene ihm nicht entglitt.

"Dann bin ich beruhigt", erwiderte er und ließ sie nicht aus den Augen. Sie starrten einander an.

"Du kannst Großartiges erreichen, wenn du es nur zulässt. Und, vor allem, wenn du dich nicht von den wesentlichen Dingen ablenken lässt. Gemeinsam schaffen wir das. Vergiss nicht : du bist MAX !", sie strahlte.

Eigentlich war er Gillian - nicht Max. Es war einfacher alle zu kontrollieren, wenn die Schülerschaft nicht mehr aus Individuen bestand, sondern aus einer gemeinsamen Masse. Also waren sie eben alle Max. Das stand für Größe oder sowas in der Art, zumindest war das der Grundgedanke. Lieber wäre er Mini und allein gewesen als Max gemeinsam mit einer Mörderin.

Vorsicht, dachte er. Solche Gedanken waren gefährlich. Er wollte nicht dort enden, wo Wyatt geendet war. Noch nicht. Trotzdem wusste er nicht ganz, was er auf Reginas pseudomotivierende Ansprache antworten sollte - also lächelte er einfach dümmlich. Das gefiel denen ohnehin am besten.

"Hast du jetzt Unterricht ?", fragte sie höfilch und sah auf ihre Uhr.

"Sagt Ihr es mir", es klang wie ein Scherz, aber Gillian meinte es todernst. Sie wusste ohnehin alles.

Regina lachte.

"Nun geh schon, du kommst sonst zu spät. Wir sehen uns morgen früh beim Appell."

Sie stand auf und wie ein Spiegelbild tat Gillian es ihr hölzern gleich. Er war schon fast an der Türschwelle, als sie ihn anhalten ließ.

"Ach und Gillian", er drehte sich um und sah ihre ernste Miene, vollkommen anders als das heuchlerische Lächeln, das noch vor Sekunden auf ihrem Gesicht geruht hatte.

"Vielleicht nimmst du die Ratssitzungen das nächste mal ein wenig ernster. Kaugummi kauen ist kein Vergehen, dem wir nachgehen müssen - und das weißt du auch."

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 26, 2019 ⏰

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