Eins

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Tilda atmet ganz ruhig. Ihre langen, dichten Wimpern sehen aus wie ein niedergelegter, unberührter Fächer. Würde sich ihre kleine Brust nicht stetig heben und senken und würde sie dabei nicht ein ganz leises, niedliches Schnarchen von sich geben, könnte man fast Angst bekommen, so tief schläft sie.

Sie ist mein jüngster Schützling. Als sie zu uns ins Haus gekommen ist – ihr alleinerziehender Vater war mit der Situation überfordert – kam sie mir viel zu zart, viel zu klein vor, um ihrer Familie entrissen zu werden. Nur, dass Tilda nicht entrissen sondern uns buchstäblich hinterher geworfen wurde. Sie ist ein aufgewecktes, fröhliches Mädchen, was vermutlich daran liegt, dass sie noch nicht verstanden hat, dass ihr Vater sie nicht mehr abholen wird. Zumindest nicht in naher Zukunft. Die anderen Kinder sind älter als sie, deswegen habe ich sie als erste ins Bett gebracht. Ich habe mir viel Zeit für sie genommen, ihr ein Buch vorgelesen und ihren Rücken gekrault, bis sie eingeschlafen ist. Am liebsten würde ich mich neben sie legen und schützend meine Arme um sie legen, damit sie vor all dem Schmerz und all der Enttäuschung, die sie früher oder später noch treffen wird, in Sicherheit ist.

Seufzend streiche ich ihr nochmal über die weichen, schwerelosen Löckchen, bevor ich aufstehe und aus dem Schlafzimmer schleiche. Auf dem Flur kommt Marie mir entgegen. Sie sagt, dass unten jemand nach mir gefragt habe. Im Eingangsbereich würden sie auf mich warten, sagt sie.

Es sind zwei junge Männer, der eine etwas älter als der andere, vermute ich. Zumindest vermute ich das auf den ersten Blick. Der eine ist dunkelblond und sommersprossig, seine Haare sind ähnlich lockig wie Tildas und mir fällt sofort eine schmale Narbe an seiner Augenbraue auf. Der andere ist brünett mit einem gepflegten Dreitagebart und einem auffallend schiefen aber durchaus attraktiven Lächeln.

Sie sehen freundlich aus, schenken mir einen offenen, interessierten Blick und dennoch wird mir schwer ums Herz. Sind sie wegen Tilda hier? Haben sie gehört, dass wir ein neues Kind im Haus haben, das eine Familie sucht? Ich sollte mich für das kleine Mädchen freuen, aber irgendwie fällt mir das ungewöhnlich schwer, weil ich sie in der kurzen Zeit bereits ziemlich gern gewonnen habe. Ich habe sogar einen ganz kleinen Moment lang mit dem Gedanken gespielt, sie zu mir zu nehmen, zu mir nach Hause.

„Ich bin Emma, was kann ich für Sie tun?", zwinge ich mich trotzdem freundlich zu fragen, doch insgeheim hoffe ich inständig, dass ich mich irre und die beiden doch kein schwules Pärchen sind, das ein Kind adoptieren möchte. Zumindest nicht Tilda.

Dass sie nicht Tilda mitnehmen wollten sondern mich, von Anfang an mich, hätte ich mir nicht mal im Traum ausmalen können.

Sie gaben sich als wohlhabende, großzügige Sponsoren aus. Als freundliche, nächstenliebende, kindervergötternde Unternehmer. Eine Stunde, sogar etwas mehr, haben wir in der Küche gesessen und geredet, nur wir drei. Marie hat sich um die anderen Kinder gekümmert. Sie wollten etwas über die Geschichte des Hauses hören, über unsere Erziehungsmethoden und über unsere Kinder. Und über mich. Sie wollten auffällig viel über mich wissen.

Das war der Tag, an dem sie mich ausgewählt haben. An dem sie sich endgültig für mich entschieden haben.

Es hat mich misstrauisch gemacht. Deswegen habe ich nur das Nötigste über mich preisgegeben. Informationen über meine Tätigkeiten im Haus, wenige Details zu meiner Ausbildung. Nichts Privates, ich war vorsichtig.

Sie haben mich trotzdem geholt.

Vorsichtig war ich nicht, weil ich Angst vor ihnen hatte. Zu dem Zeitpunkt habe ich sie noch für anständige, normale Menschen gehalten. Ich war vorsichtig, weil ich in meiner Arbeit oft Menschen kennenlernen musste, die nicht so waren, wie sie sich vor mir gegeben haben. Eltern, die ihre Kinder schlugen und im Nachhinein behaupteten, der kleine Junge sei unglücklich die Treppe runter gestürzt. Mütter, die ich im Supermarkt lachend mit ihren Söhnen und Töchtern gesehen habe und die eine Woche später in der Zeitung standen, weil sie sich von einer Brücke gestürzt hatten.

Ich war vorsichtig, weil ich Erwachsenen aus Prinzip mit einer gesunden Portion Misstrauen begegne.

Kindern nicht, Kindern vertraue ich. Weil Kinder rein sind und ehrlich und unverdorben. Auch, wenn sie misshandelt werden. Sie bleiben Kinder. Und eigentlich sind sie dann noch viel zarter, sie sind noch viel zerbrechlicher. Solange sie Kinder sind, sind sie nicht gefährlich.

Es wird erst gefährlich, wenn sie erwachsen werden. Misshandelte Kinder werden zu zerstörerischen oder toten Erwachsenen, weil sie gar nicht erst achtzehn werden.


Es wäre besser für mich gewesen, wenn die beiden die Volljährigkeit niemals erreicht hätten, aber wer hätte das ahnen können, als es noch nicht zu spät für sie war? Als es zu spät für sie war, war es auch zu spät für mich.


Sie könnte perfekt sein."

Weil du sie geil findest."

Du etwa nicht?"

Du weißt, dass es um viel, viel mehr geht."

MammaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt