Eine Schiene, viele Erinnerungen und zwei Frauen

171 8 0
                                    

Ich weinte und weinte. Iris umarmte mich und versuchte mich zu trösten. Luis sei das doch nicht wert und ich sei viel zu gut für ihn. Oh Gott, ich war so froh, dass ich nicht alleine war. "Hey Süße, beruhig dich. Ich bin für dich da, okay?!" "Danke, aber das haben schon viele zu mir gesagt. Ich glaube dir, aber du weißt nicht, dass ich mich schon einmal umbringen wollte. Ich bin schon auf den Gleisen gelegen und dann bin ich irgendwie wieder aufgestande, ich hatte wahrscheinlich Angst. Und einmal hat Papa mich angerufen, dass ich Heim kommen soll. Bis ich tot wäre, hätte Papa schon längst was geahnt, also hab ich es gelassen.", ich schniefte noch ein bisschen, dann lächelte ich sie an, " Aber diesmal ist keiner da, der mich aufhalten kann. Ich muss erst in zwei Stunden Daheim sein. Alle sind auf dem Volksfest, keiner ist auf der Straße. Diesmal ist niemand da." Iris sah mich geschockt an, aber ich löste mich von ihr, wir verabschiedeten uns und ich lief in Richtung, Zuhause. In Richtung Bahnübergang.

Ohne zu zögern, bog ich nach rechts, mitten auf die Gleise ab. Ich hatte keine Angst. Keiner war auf der Straße und ich spielte das Lied "Some die young" auf meinem Handy ab. Ich spazierte regelrecht gelassen auf den Schienen von der Straße weg. Iris hatte mir nachgerufen, dass ich keine Scheiße machen sollte. Hmm. Scheiße kann man verschieden definieren. Ich schloss meine Augen und lauschte dem Lied. Ich dachte an Luis. Daran wie er mich in der sechsten Klasse zweimal umarmt hatte. Wie er gerochen hatte und wie seine Stimme klingt. Schade, dass ich ihn nicht mal geküsst habe. Ich dachte daran, wie Papa mich versorgt hatte, als ich mit acht oder neun Jahren bei ihm Fieber und Bauchschmerzen hatte. Wie liebevoll er mich immer getröstet und sich trotz seiner vielen Arbeit um mich gekümmert hatte. Wie wir, als ich noch in der Grundschule war und nicht bei ihm gewohnt hatte, nach einem anstrengenden Schul- oder Arbeitstag, immer auf der Coutch lagen und uns "Jamie Oliver" im Fernsehen angeschaut hatten. Ja, Oli war immer ein toller Daddy gewesen. Ich machte die Augen wieder auf und betrachtete die rosanen Wolken, die über mir vorbei zogen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Papa und Mama, also seine Freundin, meiner kleinen Schwester Alissa, die zu diesem Zeitpunkt noch acht Monate alt war, wohl später von mir erzählen würden. Was Luis wohl sagen würde, wenn er hören würde, was ich getan hatte? Ob er auf meine Beerdigung kommen würde? Vermutlich nicht, sonst würde er auch noch unter die Erde kommen. Papa würde Luis sicher nicht dabei haben wollen. "Hallo?! Was machst du denn da?! Geh da runter!" Jemand rief mich. Ich drehte mich kurz um. Ich hatte gut 700m geschafft und auf der sonst verlassenen Straße standen zwei Mädchen. Schätzungsweise 19 oder höchstens Anfang 20. Sie standen am Anfang der Schienen und fuchtelten mit den Händen in der Luft rum. Ich wande mich wieder von ihnen ab und ging weiter. Laleh hatte aufgehört davon zu singen, warum manche jung sterben und ich ging stur auf die untergehende Sonne zu. Die jungen Frauen riefen mir immernoch hinterher. Vielleicht würden sie es ja aufgeben wenn ich die zwei nicht beachten würde. Falsch gedacht. Sie liefen mir nach. Bald trennte uns nur noch das Dornengestrüpp zwischen den Schienen und der Straße. "Hey komm da bitte runter! Wir können dir vielleicht helfen!" Ich merkte wie mir wieder Tränen in die Augen stiegen. "Geht bitte weg! Ihr könnt mir nicht helfen! Keiner kann das! Lasst mich alleine!" Inzwischen weinte ich schon wieder. "Bitte komm her! Wir können jetzt nicht gehen! Das verstehst du doch. Wir machen uns Sorgen um dich! Bitte komm her!" Die blonde streckte mir ihre Hand entgegen und sah mich bittend an. "Können wir dich irgendwo hinbringen? Ist bei dir Daheim jemand?" "Ich glaube schon, aber ich will jetzt nicht zu meinem Papa! Aber mein Kumpel ist Daheim." "Ok dann bringen wir dich da hin, aber komm jetzt bitte!"

Ich weis nicht genau warum, aber ich bin von den Gleisen runter gegangen und bin mit ihnen mitgegangen. Christa, die blonde, nahm meine Hand und führte mich zu ihrem Auto. Irgendwie war ich froh darüber, dass ich mich irgendwo festhalten konnte und so krallte ich mich förmlich in Christas Hand. Die andere, ich glaube sie hieß Sonja oder so, war auch sehr nett und redete mir gut zu. Sonja und Christa fuhren mich also zu Basti nach Hause. Als wir angelangt waren, machte Floredia, Bastis Mutter, uns die Türe auf. Sie begrüßte uns verunsichert, da sie die zwei Frauen ja überhaupt nicht kannte. Als wir rein gingen, sah ich Papa und Mama mit Alissa und dem Mann von Floredia, Marco, auf dem Sofa sitzen. Oh nein! Genau den beiden wollte ich doch aus dem Weg gehen bis alles geklärt war und ich mich beruhigt hatte.

Engel sterben qualvoll (wahre Geschichte)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt