"Wie geht es dir?"

112 7 0
                                    

Papa hatte mir auf meinen Wunsch hin, einen Termin bei einer Jugendtherapeutin vereinbart. Es musste sich etwas ändern! Ich konnte doch nicht für alle Ewigkeit mit Selbstmordgedanken und einer, meiner Meinung nach total lächerlichen und zwar nur leichten Angst vor Bahngleisen rum laufen, oder? Mein Direx Herr Fölge hatte mir, nachdem er mich mitten aus dem Unterricht zu sich hatte rufen lassen, vier Seiten mit Therapeuten gegeben. Vier Seiten!                                                                                             Ich hatte mir eine gewisse Frau Doctor Wunder ausgesucht. Marine, die inzwischen fast alles über meinen Zustand wusste, erzählte mir, dass sie bei der Frau Doctor ihren Legastenietest hatte machen lassen und das die Frau total nett war. Na wenigstens etwas, dachte ich erleichtert.

Der Thermien war am 03.11.14, am Montag nach den Ferien und Papa befreite mich aus der Schule, da er vormittags war. Ich stellte mir meinen Wecker ganz normal auf 6:00. Ich zog mich so wenig kindisch an wie möglich. Also, ich versuchte etwas zu finden, dass mich nicht noch jünger machte als ich sowieso schon aussah. Keine Ahnung warum es für mich so wichtig war, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es mir von Vorteil war, wenn ich mich älter gab und nicht so kindlich wirkte. Also zog ich meine weiße Bluse und eine Jeans aus dem Kleiderschrank und zog einen dunkelroten Pulli darüber. Er hatte 3/4 Ärmel und ein Muster aus vielen kleinen Blumen. Ihr denkt jetzt sicher:"Hä? Die wollte sich doch erwachsen anziehen! Blumen sind doch voll kindisch!" Ja, das verstehe ich und das würde ich auch denken,  aber der Pullover sah trotz der Blüten nicht kindisch aus. Ich steckte den Kragen aus dem Ausschnitt meines Pullis raus und krämpelte die Ärmel bis zu den Ellebogen hoch. Das MakeUp hielt ich eher dezent. Ein bisschen Maskara, ein dünner Liedstrich und ein wenig Lipgloss. Fertig! Nachdem ich fertig war, schlenderte ich mit meinem Buch in der Hand hinunter in die Küche. Ich hörte die Dusche und machte das Radio an. Während ich mir langsam ein Glas Saft einschenkte, las ich die neuen Nachrichten in unserem Klassen-Chat auf meinem Handy. Ich steckte das Ladekabel aus und ging mit meinem Roman in der einen und meinem Handy in der anderen Hand ins Wohnzimmer und ließ mich in einen der weißen Leder-Hocker fallen. Schnell schrieb ich meinen beiden Freundinnen, mit denen ich sonst immer in die Schule gehe, dass ich heute nicht kommen würde, dann machte ich es mir so gut es ging bequem und fing an zu lesen. Das Rauschen aus dem Bad verstummte und kurz darauf kam Papa aus dem Bad. Mit seinem üblichen Dress: ein Polo-Shirt und eine Jeans. "Morgen Prinzessin! Gut geschlafen?" "Mhm", brummte ich ohne aufzublicken. "Und du?", murmelte ich gerade laut genug, damit er es hören konnte. "Ja, geht schon. Alissa war wieder die halbe Nacht wach. Wahrscheinlich die Zähne.", antwortete er und ich hörte, wie er sich in der Kücke einen Kaffee machte. "Hast du sie nicht gehört?" "Ne" Gedankenversunken las ich weiter und wurde plötzlich wieder von Papa aufgeschreckt, der sich nun sauer anhörte. "Sam was machst du?" "Lesen", murrte ich genervt. "Was liest du? Bist du schon wieder am Handy?! Mensch Sam des nervt langsam! Dauernd bist du am Handy!" Er hatte gesehn, dass das Handy nicht mehr in der Küche lud und ich es hatte. Klar, war ich ziemlich oft am Handy, aber er doch auch! Und der konnte mir nicht erzählen, dass das immer nur mit der Arbeit zu tun hatte! Trotzdem musste der mich doch nicht so angehen! Das war und ist eine seiner Eigenschaften, auf die ich liebend gerne verzichten würde. Papa ging sehr schnell auf, auch wenn er, wie jetzt, nicht mal genau wusste, ob es überhaupt etwas zu meckern gab. "Nein! Behaupte doch nicht gleich Mist, obwohl du nicht weist, ob es wirklich so ist!", genervt und extrem angepisst ging ich mit dem Buch in der Hand zu ihm in die Küche und zeigte Papa, an welcher Stelle ich gerade war. Der würde nie auf die Idee kommen, zu mir zu gehen, um zu sehen was ich tat, wenn ich in der Nähe war und er gerade mit etwas anderem beschäftigt war, noch so ne Macke. "Ach so.", sagte er in diesem, Ich-tu-mal-so-als-ob-ich-dir-immernoch-mistrauen-würde-obwohl-es-gar-nicht-so-ist-Ton. "Und woh ist dein Handy?", fragte er. Ich ging ein paar Schritte zurück, bis ich den Sessel sehen konnte, auf dem ich gesessen hatte, und zeigte auf die Armlehne, auf der das Ding lag. "Aha", meinte Papa und lächelte mich mit seinem Kaffee in der Hand an. Ich durfte nicht so streng mit ihm sein. Es war sicherlich nicht leicht für ihn, wegen seiner Tochter zu einer Therapeutin zu fahren, weil sie suizied war. Ich lächelte zurück und umarmte ihn. "Ich hab dich lieb, Papa", flüsterte ich ihm in sein Shirt. "Ich dich auch!", sagte er und  strich mir über meine Haare.

Engel sterben qualvoll (wahre Geschichte)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt