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Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid, dachte sie sich, während sie den übergroßen Ast fallen ließ. Die bewusstlose Person am Boden hatte, dank dem Schlag, nun eine ziemlich unansehnliche Wunde am Kopf, aus welcher etwas Blut floss. Doch Rachel blieb keine Zeit für Schuldgefühle, schnell suchte sie nach dem Geldbeutel des Mannes, nahm alle Scheine die ihr zufielen an sich, ließ sie in ihrem Mantel verschwinden. Den Beutel steckte sie zurück zu seinem Besitzer, als wäre nichts gewesen. Ihr blieb nicht einmal Zeit ihr Opfer an der Wand anzulehnen, die Sonne ging bereits unter. Im Dunkeln würde man sie nicht in ihr Versteck lassen. Also begann das blonde Mädchen zu rennen, als wäre der Teufel hinter ihr her, schaffte es gerade noch so in den Raum zu gelangen, ehe sich die Türen hinter ihr automatisch schlossen und sämtliche Lichter mit sich nahmen. Wäre es hell gewesen, hätte man nun einen optimalen Eindruck, in das Lagerhaus eines Einkaufladens bekommen, welches ihr vorübergehender Schlafplatz war. Es war der erste Ort der ihr in den Sinn kam, als sie, einen Tag nach ihrem 14 Geburtstag, von zu Hause weggelaufen war und nicht wusste wohin. Er hatte ihr wohl wortwörtlich das Leben gerettet, denn in der frostigen Kälte, die der Winter zurzeit bot, wäre sie zweifellos in der Nacht erfroren, obgleich es hier drin nicht viel wärmer war. Besser als Zuhause war es allemal. Wieso?
Weil ihre Eltern gedroht hatten sie umzubringen.
Weil ihr der ganze Druck, der sich all die Jahre über in ihrer Familie angesammelt hatte, zuviel wurde. Weil man sie geschlagen hatte. Die Blonde knipste ihre Taschenlampe an und holte ihr improvisatorisches Bett, eine einrollbare Matte aus Styropor und Pappe hervor, breitete sie in einer Ecke direkt hinter einem Regal voller Kisten aus und ließ sich schließlich drauf nieder. Wegen dem heutigen "Beutezug" hatte sie keine Zeit mehr gehabt sich ihr Abendessen aus dem Müllkontainer des Ladens zu fischen - ihr Magen war nicht sonderlich froh darüber, dass merkte sie sofort. Aber es hatte sich gelohnt, stellte sich beim zusammenrechnen der Scheine heraus. Sie war generell in den letzten Wochen ziemlich fleißig gewesen, zusammen mit dem, ungewöhnlich hohen Anteil von Heute, hatte sie mittlerweile tatsächlich genug, um sich für die nächsten 6 Monate ein eigenes Zimmer mieten zu können! Auf das sonst so emotionslose Gesicht, erschien ein mattes, hoffnungsvolles Lächeln, als Rachel die Scheine wieder in eine ihrer unzähligen Taschen packte, das Licht ausmachte und sich hinlegte. Jetzt gab es nur noch ein Zimmer zu finden, dessen Vermieter es auf Geld, nicht auf Papiere und Ordnung abgesehen hatte. Die Nacht verging schneller als sie sollte, der Blonden blieb kaum Zeit, sich zu erholen, weshalb sie das Lagerhaus beinahe zu spät verlassen hätte. Zu ihrem Glück, hatte der erste Arbeiter, der hier hinein kam, sie nicht gesehen. Sie hatte ihre Matte schnell weggeräumt und war aus dem, nun wieder geöffneten Hintereingang gesprintet; zurück auf die frisch beschneiten Straßen der Stadt, welche um 04:00 Uhr Morgens noch menschenleer war. Sie würde sich zuerst etwas zu Essen holen, dann zu den öffentlichen Toiletten eilen, um ihr Gesicht zu waschen und ihre Haare zu einem Zopf zu binden. Immerhin hatte sie heute noch viel zu tun, ein wenig Vorbereitung konnte gar nicht Schaden.

Es kostete mehr Zeit als sie erwartet hätte, da der Kontainer zugefroren war. Beim aufreißen des Deckels hatte sie sich ihre Hand verletzt, was auch nicht weiterhalf. Zumindest hatte sie nun ihr Frühstück, welches aus einer Tüte Nüsse und einer Packung Milch bestand. (Da Sie, wenn überhaupt nur zweimal am Tag was as, musste sie möglichst viele Kalorien zu sich nehmen, sonst würde sie bald nicht mehr so schnell rennen können.) Nachdem die Verpackungen in einem Mülleimer, nicht weit weg vom Laden verstaut waren, (sie wollte nicht riskieren, das jemand ihren Müll im Container fand, ihn abschloss) machte Rachel sich auf den Weg, den Kopf gesenkt, die Hände in den Taschen, denn es war wirklich kalt. Die Toiletten befanden sich im Stadtzentrum, gute 4 km von ihrem Laden entfernt, es war bereits halb 6, als sie dort ankam. Ein Blick in den Spiegel zeigte mal wieder, dass sie aufhören sollte reinzuschauen.

Den ganzen Tag lang versuchte das blonde Mädchen nun, ein Zimmer zu bekommen, aber wie befürchtet kam überall dasselbe Ergebnis heraus: Zu Jung, keine Erlaubnis der Eltern, keine Möglichkeit sich auszuweisen. Trotzdem versuchte sie es weiter, (sie hatte nicht ein Jahr lang Geld angeschafft, um nun aufzugeben) bis die untergehende Sonne sie letztendlich zur Rückkehr zwang. Frustriert rannte sie durch die Straßen, vorbei an Leuten deren Wertsachen geradezu funkelten, doch dafür blieb keine Zeit. 10 Zimmer hatte sie heute ausprobiert, es gab sicher noch genügend andere, eines würde sie schon kriegen, sie dürfte jetzt nur auf gar keinen Fall schon nachgeben - nicht das Nachgeben eine Option war - musste es weiter versuchen.

Angels of DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt