Es geschah letzten Donnerstag in der Mittagspause. Auf der Flucht vor der heißen Junisonne hatten sich die Schüler in die kühlen Ecken des Oberrheingymnasiums verkrochen. Ich saß allein im Klassenzimmer der 10a und las eine neue Ausgabe der „Scientific American", als ich aufgeregte Schreie vom Schulhof hörte. Da ich aus dem Fenster nichts sehen konnte, rannte ich hinaus und flitzte die Treppen hinunter - in den Hof. Dort stand eine Traube von entsetzten Schülern, durch die ich mich hindurchdrängelte. Nina, ein Mädchen unserer Klasse, lag verkrümmt und leblos auf dem Boden. Ich beugte mich über sie und fühlte ihren Puls – nichts. Ich hörte jemanden sagen: „Ich hab sie fliegen sehen. Sie ist einfach gesprungen."Ich blickte nach oben und sah das geöffnete Fenster des Oberstufenraumes, der sich im dritten Stock befand. Aschfahle Lehrer eilten auf uns zu. Frau Müller rief schrill: „Clara, geh da weg! Geht sofort in eure Klassenzimmer!" Im Laufe des Tages erfuhren wir von den geschockten Lehrern, dass Nina tot sei und die Polizei ermitteln würde.
„An Ninas Stelle hätte ich mir schon längst das Leben genommen, so erbärmlich, wie die war. Die war total irre mit ihrer Ritzerei. Psychofreak. So was braucht doch keiner!" Antonia stand im Kreis ihrer Speichellecker und spuckte die Worte aus, wie die Kobra ihr Gift. Es war Montagvormittag und wir kamen gerade aus einer überfüllten Sporthalle, in der ein Gedenkgottesdienst für Nina stattgefunden hatte.
„Hey Antonia", rief ich, „halt doch einfach die Klappe!" Abrupt drehte sie sich um und die dunklen Locken wirbelten um ihren Kopf, wie eine aufgebrachte Schlangenbrut. Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute sie mich wütend an, dann schlich sich ein hämisches Lächeln auf ihre Lippen: „Ach, wen haben wir den hier? Draculas kleine Schwester! Bist genauso 'n Freak, mit deinem Gothic Look. Die Jungs rennen weg, wenn sie dich nur sehen, du Vogelscheuche." Schallendes Gelächter erfüllte den Schulhof.
„Kümmer dich lieber um deine Versetzung, Spatzenhirn!", sagte ich frostig und entfernte mich genervt von der Gruppe.
„Hey, es wäre gut, wenn du dich auch umbringst. Dann müssen wir deinen Anblick nicht mehr ertragen", schrie sie hinter mir her. Ich lächelte, denn ich spürte, dass ich sie an ihrem wunden Punkt getroffen hatte und dass sie zwei Dinge nicht wusste: erstens, dass ich mir niemals das Leben nehmen würde und zweitens, dass Nina Bartels Tod nichts mit Selbstmord zu tun hatte.
Seit dem tödlichen Autounfall meines Vaters, der in Begleitung seiner heimlichen Geliebten gewesen war, hegte ich eine fanatische Vorliebe für die Wahrheit. Diese wollte ich in Ninas Fall unbedingt herausfinden. Während ich die Treppen zu unserem Klassenzimmer hinaufstapfte, erinnerte ich mich an unsere Gespräche. Als ich sie eines Tages auf die Narben ansprach, die ihren Arm zierten, antwortete sie mir: „Bin'ne Bordi. Mein Vater fand mich süß. Jetzt sitzt er im Knast dafür."
Tief in meinen Gedanken versunken, stieß ich vor unserem Klassenzimmer mit Felix zusammen. Genau der Mann, den ich sprechen wollte. „Oh, sorry, hab' dich nicht gesehen", sprudelte es aus mir heraus. Karamellbraune Augen schauten mich melancholisch unter dunklen Haaren an. „Schon gut, nichts passiert", erwiderte er und stellte sich an, weiterzugehen. Ich fackelte nicht lange. „Mensch Felix, tut mir echt leid wegen Nina. Ich mochte sie gerne. Ich weiß von eurem geplanten Date und wie sehr sie sich darauf gefreut hat." Er zuckte zusammen: „Wann hat sie dir das denn erzählt?"
„Den Tag, bevor es passiert ist. Ich war bei ihr und wir haben für Franz gelernt. Sie war ganz schön verknallt in dich", sagte ich lächelnd, um sofort zu erstarren. Ich sah, wie sich Regenwolken in seine Augen schoben. Betreten schaute ich zu Boden. Mit einem Kloß im Hals krächzte ich: „Entschuldigung."
„Ist schon okay", murmelte er, „wollte sie schon viel früher nach einem Date fragen, aber die Wochen davor, wirkte sie so abweisend und nachdenklich. Hab' sie gefragt, ob sie Hilfe bräuchte. Sie meinte nur, Frau Degenhardt würde sich drum kümmern."
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Kurzgeschichten - Für den alltäglichen Gebrauch
Short StoryHier gibt es Kurzgeschichten zum Lachen, Weinen und Wundern. Weitere Geschichten werde ich in einigen Abständen hinzufügen. Und jetzt entspannt Euch und viel Spaß beim Lesen.