Unerwarteter Besuch

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Nichts hätte den neunundzwanzigjährigen Büroangestellten Jens Feddersen darauf vorbereiten können, was er an jenem Freitagabend im Dezember des Jahres 2015 in seiner stets ordentlich aufgeräumten Zweizimmerwohnung zu Gesicht bekam.

Als er nach einem harten Arbeitstag seine Wohnung betrat, musste er zu seinem Leidwesen feststellen, dass das Licht kaputt war. Jens war keine Person, die leicht Gefühle zeigte, doch war er im Büro gegen eine Glasscheibe gedonnert, was ihm eine dicke Beule und starke Kopfschmerzen beschert hatte.

"Verdammt noch mal", fluchte er laut, fischte sein Handy aus der Manteltasche und drückte auf das Symbol der Taschenlampe.

Was er dann zu sehen bekam, ließ seinen Unterkiefer herunterklappen: Vor ihm stand ein kleines Männchen von der Größe einer Weinflasche. Es trug einen grünen altertümlichen Kittel, der über seinem dicken Bauch von einem breiten Gürtel zusammengehalten wurde. Eine rote Zipfelmütze zierte seinen Kopf und die Füße steckten in hellbraunen Schnabelschuhen. Unter seinen buschigen Augenbrauen, die denselben roten Farbton aufwiesen, wie sein prächtiger Bart, lugten braune Knopfaugen hervor, die Jens - dessen Verstand gerade im Leerlauf verharrte - verdutzt anblinzelten.

Jens Feddersen war ein Mann der Vernunft. Schon mit fünf Jahren wusste er, dass der Weihnachtsmann ein dummes Kindermärchen, die Hexe von Hänsel und Gretel ein Sinnbild der bösen Stiefmutter und das schlafende Dornröschen nur die Geschichte des pubertierenden Lieschen Müllers war, das nur darauf wartete, seine erwachende Weiblichkeit an den nächstbesten Typen zu verschwenden. Dies hatte er von seinem Vater, einem hartgesottenen Rationalisten, gelernt.

Bevor er etwas sagen konnte, schrie das Kerlchen "Ohje, verdammich! Jungs fangt an! Feddersen ist da." Dann sauste es ins Wohnzimmer, in dem es nun ordentlich rumste und bumste.

Jens, der seine Fassung wiederfand, folgte ihm mit dem Licht spendenden Handy in der Hand, rutschte aus und knallte mit dem Hintern auf den Boden - was seinem Steißbein üble Schmerzen und seinem Blick einen farbenfrohen Sternenhimmel bescherte.

Bei näherer Untersuchung der Umgebung sah er den Ursprung seines Sturzes - eine zerplatzte Mandarine. Verdutzt schaute Jens auf - und erstarrte: Im Schein seiner Handylampe sah er Bücher, die kreuz und quer auf dem Boden lagen und Bilder, die schief an den Wänden hingen.

In all dem Durcheinander bewarfen sich kleine bärtige Männchen unter schallendem Gelächter mit Mandarinen, die wie von Geisterhand aus der Obstschale sprangen.

"Was ist hier los? Wer seid ihr?", kreischte Jens, dessen Stimme einen ungewöhnlich hohen Ton angenommen hatte.

"Brownies", krakelte es von der einen Seite des Tisches, "Leprechaun", von der anderen Seite und aus der Obstschale brummte eine tiefe Stimme:"Heinzelmännchen", während weitere Mandarinen aus der Schale hüpften.

"So was gibt's nicht! Verdammt, ich halluziniere", rief Feddersen und rieb sich seinen dröhnenden Kopf.

Daraufhin hüpften die kleinen Kerle nur noch wilder auf dem Tisch herum und grölten: "Wir sind nich da! Wir sind nich da! Uns gibt's nich! Uns gibt's nich! - Jippie!", dabei warfen sie weiter mit den Mandarinen um sich, die beim Aufprall klebrigen Saft verspritzten.

"Sofort aufhören!", schrie Jens jetzt panisch.

Jedes belesene Kind weiß, dass man Kobolde - darum handelte es sich übrigens bei den Herren -niemals, aber auch niemals anschreien darf, denn sie sind schnell beleidigt, was unangenehme Folgen haben kann. Das hatte ihm sein Vater nicht beigebracht.

Quinn, Finn, Hansi, Franzi, Jarl und Karl, Mitglieder der berüchtigten Brownie Einsatzgruppe „Erste Hilfe für Magiemuffel" hielten abrupt inne. Ihre kleinen Augen funkelten Jens empört an, dann warfen sie einen erwartungsvollen Blick auf die Obstschale, aus der jetzt George, ihr Chef, mit hochrotem Kopf und bebenden Bart herauskrabbelte. Mit einem Satz sprang er vor Jens auf den Boden.

"Mensch Feddersen, du taube Nuss, duweißt doch, dass magische Wesen nicht existieren und jetzt verlangst du von uns, dass wir mit unserem lustigen Tänzchen aufhören?", grollte der Kobold, während er unaufhörlich seinen kleinen knubbeligen Finger in Jens' Brust stieß. Dieser zuckte vor Schmerz zusammen und rief: "Aua. Das tut weh!"

"Ach ja, wie kann denn etwas wehtun, was gar nicht da ist, du Intelligenzbolzen?", lachte George höhnisch. Jens überlegte kurz, dann kam er zu dem Schluss, dass er der Logik der Beweisführung nachgeben musste.

"Ist ja gut, ist ja gut, ich habe es verstanden. Es gibt euch wirklich. Bitte hört jetzt auf, hier alles durcheinanderzubringen." Dabei kam ihm in den Sinn, dass sein Kopf doch stärker in Mitleidenschaft gezogen worden war, als er gedacht hatte.

"Nun gut", brummte George, "wenn wir aufhören sollen, dann schuldest du jedem von uns Süßigkeiten und eine Tasse Milch."

"Was ist denn das für ein Unsinn", grunzte Jens vor sich hin, als er sich vom Boden erhob. Einige Menschen lernen schnell, andere langsam, und unser Herr Feddersen gehörte zur zweiten Kategorie.

George plusterte sich bedrohlich auf und griff nach einer verklebten Mandarine, die neben ihm auf dem Boden lag. Beschwichtigend hob Jens die Hände: "Schon gut, schon gut. Ich schau mal nach, was ich alles so habe."

Eilig lief er in die Küche und kam kurze Zeit später mit Schokolade, süßsauren Lutschfingern, Smarties und einer Packung Milch ins Wohnzimmer. Dort schaute Jens sich verwundert um: Alles war wieder aufgeräumt, sogar die zerplatzen Mandarinen hatten sich in Luft aufgelöst.

"Tja, Feddersen, bist ja nicht gerade die hellste Kerze auf dem Kuchen, aber auch du hast Potenzial", lachte George und die anderen stimmten in sein Gelächter ein. Freudig nahmen die Kobolde die süßen Gaben entgegen- dann machte es Puff und sie waren verschwunden.

Soviel Aufregung macht müde. Jens beschloss, ohne Umschweife ins Bett zu gehen, zumal es in seinem Kopf furchtbar hämmerte. Als er am nächsten Morgen aufwachte, strich er mit einer Hand über seine pochende Stirn und murmelte: "Puh, was 'n abgefahrener Traum."

Vom Schlaf gerädert, tastete er mit der anderen Hand nach seinem Handy, das nicht wie gewohnt auf dem Nachtisch lag. Stöhnend erhob er sich aus dem Bett und machte sich auf die Suche.

"Ach, da bist du ja", murmelte Jens, als er es auf dem Teppich im Wohnzimmer liegen sah. Er hob das Handy auf und schaltete es ein. Mit einem erstickten Schrei plumpste er auf den nächstbesten Stuhl und starrte für längere Zeit fassungslos auf den Schirm: Dort strahlten ihn zwei Kobolde unter ihren Zipfelmützen übermütig an und bildeten mit erhobenen Fingern das Victory Zeichen.

Nach diesen denkwürdigen Erlebnissen hängte Jens Federsen seinen Beruf an den Nagel und verdient nun, ganz zum Verdruss des Vaters, als Kinderbuchautor sein Geld. Zudem lässt er es sich nicht nehmen, jeden Abend vor demSchlafengehen, Süßigkeiten und eine Schüssel Milch vor die Tür zu stellen.


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