Er war erst sechs, als er sie zum ersten Mal sah. Gerade erst eingeschult, kam er in die Klasse und sah sie in der hintersten Reihe sitzen. Er wusste nicht, was sie so besonders machte, dass sie seinen Blick anzog. Vielleicht war es ihre etwas zerrissene Kleidung, wo sich doch alle Kinder extra herausgeputzt hatten. Vielleicht waren es auch ihre kurzen Haare, die wunderbar wild von ihrem Kopf abstanden und nicht zu einem ordentlichen Zopf gebunden waren. Oder es war ihr trotzig vorgeschobenes Kinn und die verschränkten Arme, die dem Flüstern und den Blicken der Anderen trotzten. Er fand sie zauberhaft. Also setzte er sich neben sie, bevor es jemand anderes tun konnte. "Hallo ich bin Mac und wer bist du?", stellte er sich vor. Nur ein Blinzeln verriet, dass sie ihn gehört hatte. Egal, er würde sich nicht von ihrem Schweigen abschrecken lassen. Drei ältere Schwestern hatten ihn Geduld gelehrt. "Bist du auch aufgeregt? Mama meint unsere Lehrerin ist sehr nett." Sie schwieg immer noch, doch er merkte, dass sie sich ihm leicht zugewandt hatte. Er unterdrückte ein Lächeln und wollte gerade weiter reden, als die Lehrerin den Raum betrat. Etwas enttäuscht wandte er sich nach vorne. Die ganze Stunde über lag seine Aufmerksamkeit auf diesem geheimnisvollen Mädchen. Als es zur Pause klingelte, rief die Lehrerin: "Cassy, komm mal bitte nach vorne." Das Mädchen neben ihm, Cassy, blickte auf und erhob sich missmutig, um nach vorne zu schleichen. Er beobachtete sie, während er sein Pausenbrot auspackte. Leider war er zu weit weg, um zu hören, was die Lehrerin erzählte. Etwas musste die Lehrerin gesagt haben, denn Cassy spannte sich plötzlich an. Mac beobachtete, wie sie die Hände zu Fäusten ballte und kämpferisch den Kopf hob. "Sie wissen nichts. Gar nichts", rief sie plötzlich. Alle verstummten auf einmal und schauten neugierig nach vorne. Cassy wurde blass und rannte dann so abrupt los und flüchtete aus dem Raum, dass die Lehrerin sie nicht aufhalten konnte. Mac sprang ebenfalls auf und rannte ihr hinterher. Er fand sie im Schulgarten hinter der Hecke. "Lass mich in Ruhe", murmelte sie und zog die Nase hoch. Mac überlegte, ob es besser war zu gehen. Wenn seine Schwestern weinten, verzogen sie sich in ihre Zimmer und wollten niemanden sehen. Er entschied sich dennoch zu bleiben. Sie rückte wütend von ihm ab. Doch irgendwann wurde sie ruhiger. Mac überlegte verzweifelt, was er zu ihr sagen konnte, damit sie wieder fröhlicher wurde. "Meine Mutter wollte mich Abigail nennen, wenn ich ein Mädchen geworden wäre", platzte er mit dem Erstbestem raus, was ihm eingefallen war und spürte wie er rot wurde. Das war bestimmt nichts, was sie interessierte. "Abiga-il?" Sie stolperte über die ungewohnte Aussprache. "Den Namen gibt's doch gar nicht", behauptete sie. Er nickte überzeugend und wandte sich ihr zu. "Doch meine Mutter kommt aus Schottland und da gibt's den wirklich." Sie sah ihn immer noch misstrauisch an. "Ich find deinen Namen sehr schön", gestand er ihr dann. Ein Hauch von rot überzog ihre Wangen, aber sie sah ihn weiterhin in die Augen. "Meine Mutter fand griechische Märchen sehr schön", antwortete sie. "Da gab es eine Frau die wusste, was am nächsten Tag passieren sollte, nur glaubte ihr keiner. Daher hab ich meinen Namen." Mac sah sie mit großen Augen an. "Kannst du das auch?" Sie sah ihn hochmütig an. "Vielleicht." Mac grinste. Und dann erschien auch auf ihren Lippen die Andeutung eines Lächelns. Mac stockte der Atem. Dieses Lächeln machte sie weicher, ließ ihn hinter ihre raue Schale sehen. Es klingelte zum Pausenende. Er krabbelte unter der Hecke hervor und wartete bis sie neben ihm stand. Dann gingen sie zurück in die Klasse. Am Ende des Tages fand Mac, dass Schule viel schöner war, als seine Schwestern immer sagten.
Am Tag danach schenkte er ihr sein zweites Pausenbrot, als er merkte, dass sie kein Essen dabei hatte. Erst weigerte sie sich, doch als er ihr versicherte seine Mutter würde sowieso viel zu viel einpacken, nahm sie es zögerlich an und schlang es in fast zwei Bissen herunter. Daraufhin gab er ihr auch noch seinen Apfel, den sie ebenfalls verschlang. Ab da achtete er darauf ihr jeden Tag etwas mitzubringen. Mal waren es Kekse, mal Müsliriegel und manchmal auch eine Tafel Schokolade. Kleine Dinge, die er ihr zusätzlich in die Tasche schmuggelte, weil sie nur sein Brot annahm. Er hoffte, sie aß es Zuhause und schmiss es nicht weg. Beschwert hatte sie sich jedenfalls nie.
Es war Donnerstag und scheinbar ein ganz besonderer Tag. Er merkte es schon, als er beim Frühstück Zuhause die Blumen auf dem Tisch sah. Sonst standen dort nie Blumen. Und seine Mutter lächelte und summte, während sie seine Tasche packte. Seine Schwestern waren auch ganz aufgeregt und tuschelten die ganze Zeit. Mac fragte seine Mutter was los war. Sie strich ihm über den Kopf und sagte: "Heute ist Valentinstag. Mädchen und Jungen, die sich mögen schenken sich gegenseitig etwas." Mac verzog das Gesicht und dachte nicht weiter daran. Bis er Cassy erwischte, als sie von Helenas Platz eine Rose klaute. Er war gerade ins Klassenzimmer getreten und noch war keiner da. Schnell schloss er die Tür und stellte sich davor. "Cassy was machst du den da?", fragte er leise. Sie zuckte zusammen und drehte sich um. "Geht dich nichts an", war ihre Antwort. "Aber das ist Helenas Blume", sagte er. Cassy schwieg und sagte dann ganz leise: "Aber sie hat doch schon drei." In ihrer Stimme war etwas, das Mac nicht genau benennen konnte. Es schnürte ihm das Herz zusammen. Cassy warf einen Blick auf die Rose und dann zu ihm und legte sie wieder auf Helenas Platz. Mac atmete erleichtert auf, denn nun kamen die anderen Kinder. Den ganzen Tag über redete Cassy kein Wort mehr mit ihm. Als er Zuhause war, ging er zu seinem Vater und erklärte ihm, dass er auch eine Rose brauchte. Sein Vater schmunzelte. "Die Männer in unserer Familie haben sich schon immer schnell festgelegt", brummelte er. Mac wusste nicht, was er meinte und fragte auch nicht weiter nach. Sein Vater ging mit ihm in den Blumenladen und ließ ihn eine Blume aussuchen. Er wollte auf jeden Fall eine Rose. Sie passte gut zu Cassy. Allerdings fand er nicht wirklich die richtige. Er wusste auch nicht, aber ihm gefielen weder die roten noch die weißen. Sein Vater ging neben ihn in die Hocke. "Was ist los?", fragte er Mac. "Gibt's die Rosen auch in einer anderen Farbe?", fragte er seinen Vater. Der wandte sich an die Verkäuferin, die den Kopf schüttelte. "Aber du kannst die Rose in von Tinte gefärbtes Wasser stellen", schlug sie vor, "ich habe das einmal ausprobiert und es hat super funktioniert." Also kauften sie zwei weiße Rosen, falls das Experiment scheitern sollte. Am nächsten Morgen rannte Mac als erstes in die Küche und sah die Rose, die in einem wunderschönen blau erblüht war.
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Solange bis wir uns wiedersehen...
Storie breviEr wusste nicht, was sie so besonders machte, dass sie seinen Blick anzog. Vielleicht war es ihre etwas zerrissene Kleidung, wo sich doch alle Kinder extra herausgeputzt hatten. Vielleicht waren es auch ihre kurzen Haare, die wunderbar wild von ihre...